Ungleichheit und ihre Folgen

In der öffentlichen Debatte wird die soziale Gerechtigkeit über die Themen der Armut, Bildung, Arbeitsmarkt und sozialen Leistung diskutiert. Die gesellschaftliche Situation ist gekennzeichnet durch ein Auseinanderdriften von Arm und Reich, durch wachsende Armutsraten, niedrige Bildungsmobilität und hohe Bildungsbarrieren für Migranten und sozial belastete Schichten. Einkommensungleichheit und Armut sind in Deutschland seit dem Jahr 2000 stärker gestiegen als in jedem vergleichbaren Industrieland (OECD-Bericht, 2008). Arme haben schlechtere Bildungschancen, sie erkranken öfter und sterben früher. Das legt nahe zu folgern: Ohne Verteilungsgerechtigkeit keine Chancen-, Leistungs- oder Bedarfsgerechtigkeit.

Die Debatte um soziale Gleichheit ist heftig und wird auf vielen Ebenen geführt.
Sie betrifft auch die Soziale Arbeit zentral.
Dabei treffen unterschiedliche Meinungen und Positionen aufeinander. So wurde diskutiert in der:

  • Politik, ob der Staat für gleiche Lebensbedingungen oder gleiche Zugangschancen sorgen soll
  • Philosophie, wie Gleichheit und Gerechtigkeit zueinander stehen
  • Sozialen Arbeit, ob die Soziale Arbeit ein politisches Mandat hat soziale Ungleichheiten zu verändern.

Die zentralen Fragen lauten:
Sind Gesellschaften mit mehr Gleichheit sozialere Gesellschaften?
Treten in Gesellschaften mit ausgeprägter Ungleichheit verstärkt soziale Probleme auf?
Lässt sich ein Zusammenhang von Ungleichheit und sozialen Problemen empirisch belegen?

Zunächst interessiert uns die Entwicklung von Ungleichheit.






„Seit dem Jahr 2000 haben in Deutschland Einkommensungleichheit und Armut stärker zugenommen als in jedem anderen OECD Land.“ (OECD Fact Sheet Deutschland).

Was sind die Folgen von Ungleichheit?

Wilkinson/Pickett (2010) haben auf der Basis von Daten der Weltbank, der Vereinten Nationen und Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) gezeigt, wie sich Ungleichheit auf das Auftreten von sozialen und gesundheitlichen Problemen auswirkt.







Abbildung: Vielfaches der Einkommensdifferenz zwischen den reichsten 20% und den ärmsten 20% der jeweiligen Landesbevölkerung
(aus: Wilkinson/Pickett 2010, S. 31)

Die von ihnen zugrunde gelegten Kategorien für soziale und gesundheitliche Probleme sind: Niveau des Vertrauens, Psychische Erkrankungen und Drogensucht, Lebenserwartung und Säuglingssterblichkeit, Fettleibigkeit, schulische Leistungen der Kinder, Teenager-Schwangerschaften, Selbstmorde, Zahl der Gefängnisstrafen und soziale Mobilität (ebd., 33). Die Beschreibung von Ungleichheit bezieht sich auf Einkommensungleichheit. Berechnet wird das Einkommen der reichsten und der ärmsten 20% der Bevölkerung. In Japan und den skandinavischen Ländern erreichen die reichsten 20% vier Mal so viel wie die ärmsten 20% der Bevölkerung – in den USA und Singapur ungefähr neunmal so viel.

Die folgende Abbildung zeigt einen deutlichen Zusammenhang zwischen Ungleichheit und sozialen Problemen.


Abbildung: Im Vergleich der reichsten Länder zeigt sich ein enger Zusammenhang zwischen Ungleichheit und gesundheitlichen und sozialen Problemen. (Aus: Wilkinson/Pickett 2010, S. 34)

Nimmt die Ungleichheit zu, steigen die Werte für soziale Probleme.

Ein weiterer bedeutender Faktor ihrer Untersuchungen gilt dem Wohlergehen der Kinder. Hier haben sie entsprechend den Angaben von UNICEF (Index of child-well-being in rich countries) den Zusammenhang von Ungleichheit und Wohlergehen der Kinder berechnet.


Abbildung: Das Wohlergehen der Kinder (nach Angaben von UNICEF) ist abhängig von der Gleichheit. (Aus: Wilkinson/Pickett 2010, S. 38)

Es besteht keine Korrelation zwischen dem Durchschnittseinkommen eines Landes und der Situation von Kindern, aber eine klare betrachtet man die Einkommensungleichheit (ebd., 39).


Abbildung: Der Vergleich der reichen Länder zeigt keinen Zusammenhang zwischen ihrem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen und den Angaben von UNICEF zum Wohlergehen der Kinder. (Aus: Wilkinson/Pickett 2010, S. 38)

Um diesen Sachverhalt zu verdeutlichen folgt der Ausschnitt eines Interviews mit Richard Wilkinson aus „Die Zeit“, das am 25. März 2010 erschienen ist (Jungclaussen/Tenbrock 2010):


DIE ZEIT: Herr Wilkinson, Ihrer Ansicht nach ist Ungleichheit die Ursache fast aller sozialen Probleme in wohlhabenden Industriestaaten. Warum?

Richard Wilkinson: Die Statistiken sind da ganz eindeutig. Je größer die Unterschiede zwischen Arm und Reich, umso größer sind auch die sozialen Probleme. Ob es um Kriminalität, Gewalt, Drogenmissbrauch, Schwangerschaften im Kindesalter, um schlechte Gesundheit, Fettleibigkeit, den Bildungsstand oder die Lebenserwartung geht: Überall zeigt sich, dass »ungleiche« Staaten wesentlich schlechter dastehen. Und zwar nicht nur ein bisschen schlechter. Anders ausgedrückt: In den westlichen Industrienationen, in denen der Unterschied zwischen Arm und Reich weniger ausgeprägt ist, gibt es bis zu sechsmal weniger Morde. Und bis zu zehnmal weniger Menschen sitzen im Gefängnis.

...

ZEIT: Und die gleicheren Länder haben wirklich immer und in jedem Fall weniger Probleme?

Wilkinson: Wir haben Dutzende Studien ausgewertet, sie sprechen alle dieselbe Sprache: Massive Ungleichheit macht eine Gesellschaft ganz generell dysfunktionaler. Ohne Ausnahme.