Soziale Gerechtigkeit
Website: | Lernplattform Moodle | KSH München |
Kurs: | 1.2B/VHB "Einführung in systemtheoretische Grundlagen" - Musterkurs (Kirchner) |
Buch: | Soziale Gerechtigkeit |
Gedruckt von: | Gast |
Datum: | Sonntag, 24. November 2024, 14:13 |
aus: Wilkinson/Pickett (2010)
Aus der systemtheoretischen Perspektive dieses Kurses wird die Entwicklung der Gesellschaft über die Ausdifferenzierung ihrer wesentlichen Leistungsbereiche (Wirtschaft, Wissenschaft, Politik, Soziale Arbeit usw.) interpretiert.
Diese analytische Betrachtung orientiert sich an Wirkungen und Zusammenhängen und geht nicht von der Beobachtung von Ungleichheit, Not oder Gewalt aus. Diese normativ nicht hinnehmbaren Zustände werden wahrgenommen. Die Unterscheidungen zwischen den wissenschaftlichen Analysen, kulturellen Wertsetzungen, politischen Gestaltungsaufgaben und sozialarbeiterischer Praxis helfen Beziehungen zu erfassen, ermöglicht diese Beziehungen zu reflektieren und begründete Handlungsperspektiven zu entwerfen.
Auch die Aufgaben und Leistungen der Sozialen Arbeit werden vor dem Hintergrund der Ausdifferenzierung der Gesellschaft verständlich nachvollziehbar. Diese Aufgaben (z.B. gesellschaftlich erwartbare Hilfe anzubieten) sind im sozialen, demokratischen Rechtsstaat den Bürgern und den Institutionen der Gesellschaft zu vermitteln. Den Organisationen der Funktionssysteme Politik, Wirtschaft, Gesundheit und Justiz, ist plausibel zu machen, welche Funktionen Soziale Arbeit in der Gesellschaft übernimmt. Diese Vermittlungsleistung kann nicht an die Medien abgetreten werden sondern funktioniert mit Hilfe sozialstaatlicher Begriffe. Diese Begriffe bilden von Vielen geteilte Vorstellungen und ermöglichen soziale und organisatorische Anschlüsse.
Ein zentraler Leitbegriff ist die soziale Gerechtigkeit.
Beacker (1994) weist dem Begriff der sozialen Gerechtigkeit die Funktion zu, die dauerhafte Ausdifferenzierung der Sozialen Arbeit zu sichern. Obwohl es das Ziel Sozialer Arbeit ist, sich auf der Ebene des Falles überflüssig zu machen, kann sie ihre Organisationen sichern, weil sie plausibel darstellen kann, dass sie auf die ständigen Anforderungen nach sozialer Gerechtigkeit reagiert und verlässliche, organisatorisch gesicherte Antworten bereithält.
Die Bearbeitung der Nebenfolgen der Funktionssysteme kann nicht in einem 1:1 Verhältnis gestaltet werden. Auch ist es nicht möglich, der Sozialen Arbeit unbegrenzte Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Es ist weder begründbar noch vermittelbar, dass die Soziale Arbeit ausschließlich an ihren Vorstellungen ausgerichtete Mittel beansprucht und dann nach ihrem Belieben verteilt. Stattdessen ist ein Diskurs erforderlich, an dem Kriterien der gesellschaftlich Hilfevorstellungen und Hilfeleistungen ausgerichtet werden.
Dieser Diskurs wird unter der Überschrift soziale Gerechtigkeit geführt.
Im Folgenden werden Ihnen:
- die Eckpunkte der Diskussion und
- der Begriff soziale Gerechtigkeit vorgestellt sowie
- zentrale Theorien der sozialen Gerechtigkeit präsentiert und
- Hinweise zur systemischen Praxis gegeben.
Der Text wurde von Mareike Burger und Wilfried Hosemann geschrieben, dabei wurden die Texte W. Hosemann (2009, 2010) überarbeitet.
Ungleichheit und ihre Folgen
In der öffentlichen Debatte wird die soziale Gerechtigkeit über die Themen der Armut, Bildung, Arbeitsmarkt und sozialen Leistung diskutiert. Die gesellschaftliche Situation ist gekennzeichnet durch ein Auseinanderdriften von Arm und Reich, durch wachsende Armutsraten, niedrige Bildungsmobilität und hohe Bildungsbarrieren für Migranten und sozial belastete Schichten. Einkommensungleichheit und Armut sind in Deutschland seit dem Jahr 2000 stärker gestiegen als in jedem vergleichbaren Industrieland (OECD-Bericht, 2008). Arme haben schlechtere Bildungschancen, sie erkranken öfter und sterben früher. Das legt nahe zu folgern: Ohne Verteilungsgerechtigkeit keine Chancen-, Leistungs- oder Bedarfsgerechtigkeit.
Die Debatte um soziale Gleichheit ist heftig und wird auf vielen Ebenen geführt.
Sie betrifft auch die Soziale Arbeit zentral.
Dabei treffen unterschiedliche Meinungen und Positionen aufeinander. So wurde diskutiert in der:
- Politik, ob der Staat für gleiche Lebensbedingungen oder gleiche Zugangschancen sorgen soll
- Philosophie, wie Gleichheit und Gerechtigkeit zueinander stehen
- Sozialen Arbeit, ob die Soziale Arbeit ein politisches Mandat hat soziale Ungleichheiten zu verändern.
Die zentralen Fragen lauten:
Sind Gesellschaften mit mehr Gleichheit sozialere Gesellschaften?
Treten in Gesellschaften mit ausgeprägter Ungleichheit verstärkt soziale Probleme auf?
Lässt sich ein Zusammenhang von Ungleichheit und sozialen Problemen empirisch belegen?
Zunächst interessiert uns die Entwicklung von Ungleichheit.
„Seit dem Jahr 2000 haben in Deutschland Einkommensungleichheit und Armut stärker zugenommen als in jedem anderen OECD Land.“ (OECD Fact Sheet Deutschland).
Was sind die Folgen von Ungleichheit?
Wilkinson/Pickett (2010) haben auf der Basis von Daten der Weltbank, der Vereinten Nationen und Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) gezeigt, wie sich Ungleichheit auf das Auftreten von sozialen und gesundheitlichen Problemen auswirkt.
Abbildung: Vielfaches der Einkommensdifferenz zwischen den reichsten 20% und den ärmsten 20% der jeweiligen Landesbevölkerung
(aus: Wilkinson/Pickett 2010, S. 31)
Die von ihnen zugrunde gelegten Kategorien für soziale und gesundheitliche Probleme sind: Niveau des Vertrauens, Psychische Erkrankungen und Drogensucht, Lebenserwartung und Säuglingssterblichkeit, Fettleibigkeit, schulische Leistungen der Kinder, Teenager-Schwangerschaften, Selbstmorde, Zahl der Gefängnisstrafen und soziale Mobilität (ebd., 33). Die Beschreibung von Ungleichheit bezieht sich auf Einkommensungleichheit. Berechnet wird das Einkommen der reichsten und der ärmsten 20% der Bevölkerung. In Japan und den skandinavischen Ländern erreichen die reichsten 20% vier Mal so viel wie die ärmsten 20% der Bevölkerung – in den USA und Singapur ungefähr neunmal so viel.
Die folgende Abbildung zeigt einen deutlichen Zusammenhang zwischen Ungleichheit und sozialen Problemen.
Abbildung: Im Vergleich der reichsten Länder zeigt sich ein enger Zusammenhang zwischen Ungleichheit und gesundheitlichen und sozialen Problemen. (Aus: Wilkinson/Pickett 2010, S. 34)
Nimmt die Ungleichheit zu, steigen die Werte für soziale Probleme.
Ein weiterer bedeutender Faktor ihrer Untersuchungen gilt dem Wohlergehen der Kinder. Hier haben sie entsprechend den Angaben von UNICEF (Index of child-well-being in rich countries) den Zusammenhang von Ungleichheit und Wohlergehen der Kinder berechnet.
Abbildung: Das Wohlergehen der Kinder (nach Angaben von UNICEF) ist abhängig von der Gleichheit. (Aus: Wilkinson/Pickett 2010, S. 38)
Es besteht keine Korrelation zwischen dem Durchschnittseinkommen eines Landes und der Situation von Kindern, aber eine klare betrachtet man die Einkommensungleichheit (ebd., 39).
Abbildung: Der Vergleich der reichen Länder zeigt keinen Zusammenhang zwischen ihrem durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen und den Angaben von UNICEF zum Wohlergehen der Kinder. (Aus: Wilkinson/Pickett 2010, S. 38)
DIE ZEIT: Herr Wilkinson, Ihrer Ansicht nach ist Ungleichheit die Ursache fast aller sozialen Probleme in wohlhabenden Industriestaaten. Warum?
Richard Wilkinson: Die Statistiken sind da ganz eindeutig. Je größer die Unterschiede zwischen Arm und Reich, umso größer sind auch die sozialen Probleme. Ob es um Kriminalität, Gewalt, Drogenmissbrauch, Schwangerschaften im Kindesalter, um schlechte Gesundheit, Fettleibigkeit, den Bildungsstand oder die Lebenserwartung geht: Überall zeigt sich, dass »ungleiche« Staaten wesentlich schlechter dastehen. Und zwar nicht nur ein bisschen schlechter. Anders ausgedrückt: In den westlichen Industrienationen, in denen der Unterschied zwischen Arm und Reich weniger ausgeprägt ist, gibt es bis zu sechsmal weniger Morde. Und bis zu zehnmal weniger Menschen sitzen im Gefängnis.
...
ZEIT: Und die gleicheren Länder haben wirklich immer und in jedem Fall weniger Probleme?
Wilkinson: Wir haben Dutzende Studien ausgewertet, sie sprechen alle dieselbe Sprache: Massive Ungleichheit macht eine Gesellschaft ganz generell dysfunktionaler. Ohne Ausnahme.
Kann man soziale Gerechtigkeit messen?
Aufgrund seiner Thematik ist die Messung von sozialer Gerechtigkeit mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Gerechtigkeit wird stark vom subjektiven Empfinden beeinflusst: „Was gerecht ist und was nicht, liegt im Auge des Betrachters bzw. an den Maßstäben, die er oder sie anlegen. Ist also die erbrachte Leistung die entscheidende Kategorie oder der Bedarf? Selbst hierauf werden Viele antworten: ‚Je nachdem’. Tatsächlich ist es nicht ungewöhnlich, dass für verschiedene Bereiche unterschiedliche Gerechtigkeitsprinzipien zugrunde gelegt werden.“ (Piepenbrink 2009, 2). Außerdem gilt es zu berücksichtigen, dass soziale Ungleichheit von der Bevölkerung unterschiedlich wahrgenommen wird (s.o.). Das Ungerechtigkeitsempfinden variiert in den verschiedenen Gesellschaften und ist beispielsweise abhängig von deren Länderstandard, Religion oder den vorherrschenden Normen. Becker/Faik (2010) haben anhand der Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP)für Deutschland ermittelt, dass eine schichtübergreifende Wahrnehmung der wachsenden Polarisierung existiert und soziale Ungleichheit ein Teil des Alltagsbewusstseins geworden ist (ebd, 87). Sie befürchten: „Zusammen mit relativ geringen durchschnittlichen Demokratie- und Lebenszufriedenheiten für sozialpolitische Problemgruppen ergeben sich hieraus Stabilitätsprobleme“ (Becker/Faik, 2010, S.87).
Ergebnisse und Besonderheiten der Messung von Gerechtigkeit sollen Ihnen im Folgenden vorgestellt werden.
(aus: OECD Fact Sheet)
Die Ergebnisse der Armuts- und Fördergrenzen sind abhängig von den zu Grunde gelegten Daten. Hier gilt, wie für andere Forschungsinteressen auch, dass nur von einem bestimmten Blickwinkel aus betrachtet werden kann. D. h. der Forscher legt fest, wie er Ungleichheit definiert und wie er bei der Messung vorgeht. Die folgende Übersicht zeigt die Ergebnisse unterschiedlicher Ansätze im Vergleich.
Berechnungsgrundlage |
Armutsschwelle für Alleinstehende |
Armutsquote der Bevölkerung |
---|---|---|
EU-einheitliches Verfahren nach den Laeken-Indikatoren |
781 Euro im Monat |
13% |
Sozioökonomisches Panel |
880 Euro im Monat |
18% |
Einkommens- und Verbrauchsstichprobe |
980 Euro im Monat |
|
Steuerliches Existenzminimum |
8.004 Euro im Jahr |
|
Pfändungsfreigrenze |
989,99 Euro im Monat |
|
Die Armutsschwelle in Deutschland variiert je nach der Berechnungsgrundlage.
(Aus: "Armut bekämpfen", Blätter der Wohlfahrtspflege 4/2010)
Wie notwendig und aussagekräftig eine differenzierte Untersuchung der realen Lebensumstände sein kann, zeigt die nebenstehende, etwas ältere Übersicht.
Übersicht/Tabelle
"Aspekte deprivationsbedingter Armut"
Bitte Anklicken zum Vergrößern.
Um Unterschiede hinsichtlich der Gerechtigkeit zu ermitteln und Maßnahmen zur Beseitigung von Ungerechtigkeit zu entwickeln, sind ein wissenschaftlicher Umgang sowie die quantitative Messung von Gerechtigkeit unumgänglich. Der Sozialen Arbeit kommt dabei eine besondere Bedeutung zu, da sie als Profession und Wissenschaft unmittelbaren Kontakt zu den sozialen Problemen vor Ort hat sowie von der Umsetzung und den Ergebnissen der praktizierten Lösungsmaßnahmen betroffen ist. (Hosemann 2010).
Bei der Bewertung der sozialen Situationen spielen die zu Grunde gelegten Kriterien, Maßstäbe und Dimensionen eine besondere Rolle. Die wesentlichen Gerechtigkeitsdimensionen werden deshalb im folgenden Abschnitt dargestellt.
Wie wichtig es ist, soziale Gerechtigkeit als messbare Größe aufzufassen und wie mit deren Ergebnissen umgegangen werden kann, zeigt der Vorschlag von dem Reeder Peter Krämer, der am 23. Juli 2010 in der Süddeutschen Zeitung erschienen ist (Läsker/Öchsner 2010):
SZ: Sie sind Millionär und wollen anderen Millionären durch höhere Steuern auf Vermögen Geld wegnehmen. Finden Sie das nicht ein bisschen komisch?
Peter Krämer: Überhaupt nicht. Mir geht es um mehr Steuergerechtigkeit. Deshalb habe ich vorgeschlagen, die Vermögenssteuer aufleben zu lassen und andere Steuern auf Vermögen u erhöhen.
SZ: Haben Sie nicht das Gefühl, Sie zahlen schon jetzt zu viel Steuern?
Krämer: Nein, ganz und gar nicht. Schauen Sie mal ins Ausland! In den USA, Japan, und Frankreich zahlen Wohlhabende das Vierfache, im Mutterland des Kapitalismus, in Großbritannien, sogar das Fünffache dessen, was hierzulande fällig ist. Wenn die Reichen in Deutschland 2,0 statt bisher 0,8 Prozent des Bruttoinlandsproduktes zahlen müssen, das entspricht dem europäischen Durchschnittssatz, könnte der Fiskus 20 Milliarden Euro mehr einnehmen.
SZ: Wie soll das praktisch gehen?
Krämer: Wir müssen die Vermögenssteuer wieder einführen, wobei der frühere Satz von 0,6 auf 1,0 Prozent zu erhöhen wäre. Wir sollten die Steuer aber auf Privatvermögen beschränken. Betriebsvermögen sollten aufgrund der Arbeitsplätze im Mittelstand Tabu bleiben. Die Grundsteuer auf Immobilienbesitz gehört ebenso erhöht wie die Erbschafts- und Schenkungssteuer.
Dimensionen sozialer Gerechtigkeit
Die folgende Abbildung soll einen Überblick über die Dimensionen der Gerechtigkeit liefern. Es sei darauf verwiesen, dass diese Dimensionen nicht im direkten Gegensatz zueinander, sondern gemeinsam im Gegensatz zur sozialen Ungerechtigkeit stehen. Der linke Teil bezieht sich auf die Mikroebene und spiegelt die Gerechtigkeit zwischen einzelnen Individuen wieder, die zu einem Zeitpunkt zusammenleben. Da die Gerechtigkeit zwischen Männern und Frauen alle Einzelaspekte umfasst ist sie als „übergreifende Querschnittsaufgabe“ (Becker/Hauser 2009, 46) zu verstehen. Ähnliches gilt für die Generationengerechtigkeit (Längsschnittperspektive), auf die sich der rechte Teil der Abbildung bezieht (s.o.).
Abbildung: Soziale Gerechtigkeit – Zielebenen, Teilziele und Zielbeziehungen
(Blockpfeile einfach: komplementäre Beziehungen; Blockpfeile mit zwei Spitzen: Konkurrenzbeziehung)
Aus Becker, I./Hauser, R. (2009), S. 47
Die im Schaubild verwendeten Gerechtigkeitsdimensionen sollen im folgenden kurz erklärt werden:
- Chancengerechtigkeit:
Das Prinzip der Chancengerechtigkeit fordert, jedem – unabhängig von Herkunft und nicht selbst verantworteten Einschränkungen – möglichst gleiche Chancen beim Zugang zu Gütern oder Positionen zu gewähren und lässt sich vom Gleichheitsprinzip ableiten., das für jeden gleiche Rechte oder den gleichen Anteil an Gütern und Lasten fordert. (Liebig/May 2009, 5) - Leistungsgerechtigkeit:
Das Leistungsprinzip verlangt die Belohnung individueller Anstrengungen und Leistungen, „durchaus mit dem ‚Nebengedanken’, Leistungsanreize zu schaffen“ (s.o.). - Bedarfsgerechtigkeit:
Das Ziel des Bedarfsprinzips ist die Sicherung einer minimalen oder „angemessenen“ Deckung von Grundbedürfnissen (s.o.). - Generationengerechtigkeit:
Hier wird zwischen Inter-Generationen-Gerechtigkeit und Intra-Generationen-Gerechtigkeit unterschieden. Mit Inter-Generatonen-Gerechtigkeit ist gemeint, dass die Bedürfnisse heutiger Generationen so befriedigt werden sollen, dass die Bedürfnisse kommender Generationen nicht gefährdet werden. Hier sei beispielhaft auf die Umweltverschmutzung, Staatsverschuldung oder den Generationenvertrag verwiesen. Die Intra-Generationen-Gerechtigkeit bezieht sich hingegen auf die Vermeidung von krassen Gegensätzen zwischen Arm und Reich innerhalb einer Generation. Bei diesen Unterschieden kann es sich sowohl um soziale (z.B. Harz-IV-Empfänger vs. Spitzengehaltbezieher), als auch um räumliche ( z. B. Entwickelte vs. Entwicklungsländer) Verschiebungen handeln.
Die folgende Tabelle soll einen Überblick darüber liefern, wer die Adressaten und Träger der jeweiligen Gerechtigkeitsdimension sind:
Paradigmen |
Bedarfsgerechtigkeit |
Leistungsgerechtigkeit |
Teilhabegerechtigkeit |
---|---|---|---|
Adressaten |
Arme
Bedürftige |
Arbeitnehmer |
Familien |
Träger |
Sozialanwälte |
Arbeitgeber |
soziale Bewegungen und Initiativen |
Theorien der sozialen Gerechtigkeit
Die Idee der Verteilungsgerechtigkeit stellt bereits in den Schriften von Aristoteles ein Gerechtigkeitselement in dessen Unterteilung der Gerechtigkeit dar und wurde unter anderem von Thomas von Aquin in der christliche Tradition weitergeführt. In dieser Tradition kann Verteilungsgerechtigkeit als „die gerechte Verteilung von Vergünstigungen unter den Mitgliedern der verschiedenartigen Vereinigungen“ so. Miller (2008, 43) aufgefasst werden. Er sieht deshalb die heutige Idee der sozialen Gerechtigkeit als eine erweiterte Version des von diesen älteren Philosophen entwickelten Begriffs der Verteilungsgerechtigkeit.
Hauptsächlich liberale Sozialphilosophen haben dem Begriff soziale Gerechtigkeit zur Bedeutung verholfen. Sie schrieben in einer Zeit, in der wirtschaftliche und soziale Auseinandersetzungen massive Formen annahmen und öffentliche Institutionen unter erheblichen ethischen und politischen Druck standen. So wurde von britischen Autoren wie John Stuart Mill, Leslie Stephen und Henry Sidgwick auf soziale Gerechtigkeit verwiesen. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff soziale Gerechtigkeit bedeutender, z.B. entstand 1900 das Buch „Social Justice“ von Westel Willoughby in New York. Miller (2008) hebt hervor, dass hier die Gesellschaft als integriertes Ganzes gesehen wird: „Soziale Gerechtigkeit setzt die Idee einer Gesellschaft voraus, die aus wechselseitig voneinander abhängigen Teilen besteht, die eine das Geschick jedes einzelnen Mitglieds beeinflussende institutionelle Struktur hat und in der eine Instanz wie der Staat zu planvollen Reformen im Namen der Fairness imstande ist.“ (ebd. 45 f.).
So auch die Sicht von M. Bäumer, Leiterin des Jugendamtes Prenzlauer Berg, die es 1929 als Aufgabe der Sozialpädagogen ansieht, „..., dem Schicksal gerecht zu werden im Rahmen schematischer Organisation und Massenregelungen. Er steht ständig vor dem Zusammenstoß von Gesetz und Leben und bedarf deshalb ebenso sehr des Verständnisses für die Größe und den Wert der ‚Gerechtigkeit’ im Sinne Platons, des systematischen Rechts auf der einen Seite und für die unwägbaren Besonderheiten des Lebens.“ (zitiert nach Müller 1990, 66; Bäumer 1929b, 221).
Nancy Fraser: Umverteilung und Anerkennung
Nancy Fraser (2003) orientiert ihren Ansatz zur sozialen Gerechtigkeit am normati-ven Prinzip der „partizipatorischen Parität“. Nach dieser Norm erfordert die Gerech-tigkeit gesellschaftliche Vorkehrungen, dass es allen Gesellschaftsmitgliedern möglich ist, miteinander als Ebenbürtige zu verkehren. Die ‚objektive Bedingung’ er-fordert, dass „die Verteilung materieller Ressourcen die Unabhängigkeit und das „Stimmrecht“ der Partizipierenden gewährleisten“ (Fraser/Honneth, 55). Die ‚intersub-jektive Bedingung’ verlangt, „…dass institutionalisierte kulturelle Wertmuster allen Partizipierenden den gleichen Respekt erweisen und Chancengleichheit beim Erwerb gesellschaftlicher Achtung gewährleisten“ (s.o.). Individuen und Gruppen, denen der Status eines vollwertigen Partners in sozialen Interaktionen vorenthalten wird, ge-schieht Unrecht.
Die Verwirklichung von Gerechtigkeit verlangt nach Fraser zwei Ausrichtungen: „Um-verteilung“ und „Anerkennung“ Es handelt sich dabei um normative philosophische Kategorien, die aufeinander bezogen sind aber doch unterschieden werden können. Die legitimen Ansprüche nach Gleichheit sind mit den legitimen Forderungen nach Anerkennung von Unterschieden in Einklang zu bringen (ebd., 17).
Fraser besteht darauf, dass reale und bedeutsame Prozesse der Umverteilung von Ressourcen und gesellschaftlicher Wertschöpfung vollzogen werden müssen, die nicht nur auf die offizielle Wirtschaft beschränkt werden dürfen. In einem bestimmten Ausmaß muss man von Ungleichheit ausgehen und sie akzeptieren, aber es gibt Schwellenwerte, die eine partizipatorische Parität verhindern. Darüber hinaus gilt es zu berücksichtigen: Die Anerkennung der legitimen Ansprüche von Gruppen auf Un-terschiedlichkeit (z.B. Schwule oder Lesben) beinhaltet noch keine materielle Gleich-stellung. Ebenso beinhaltet die Gleichbezahlung/-behandlung noch keine Anerkennung des Rechts auf Unterschiedlichkeit und kulturelle Selbstverwirklichung. Die Wahrnehmung sozialen Unrechts ist an die öffentlichen Diskurse gebunden („Die im Schatten sieht man nicht“ – Brecht) und diese Kommunikation beeinflusst wesent-lich das Spektrum akzeptierter Lösungen. Frasers Ansatz wird von ihr mit einer Per-spektive der politischen Umsetzung versehen, die die Vorteile der Umverteilungspolitik mit denen der Anerkennungspolitik zusammenführen soll. Sie versieht die Hinweise mit den Überlegungen, dass Gerechtigkeit eine politische Di-mension und ein Problem der passenden Rahmung hat. Vorsicht sei bei der Instituti-onalisierung von Prozessen geboten, die Gerechtigkeit fördern sollen, um die passenden Arenen der Beteiligungen abzugrenzen.
Frasers Theorie bietet für die Soziale Arbeit u.a. folgende Hinweise:
• Die Möglichkeiten einer Moralbegründung unter den Bedingungen des moder-nen Wertepluralismus
• Die Bedeutung der ökonomischen Umverteilung von Ressourcen, weil sie zum einen die Basis für Anerkennungsprozesse schafft und zum anderen deren praktische Bestätigung darstellt
• Die Notwendigkeit der kulturellen Anerkennung von Ungleichheit und Unge-rechtigkeit als Voraussetzungen für die Lösung von sozialen Konflikten und die Möglichkeit der Umverteilung
• Das Grundmodell von Umverteilung und Anerkennung korrespondiert mit dem traditionellen Leistungsangebot der Sozialen Arbeit „Geld und gute Worte“.
John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit
Die seit den 80iger Jahren des letzten Jahrhunderts einflussreichste Theorie der so-zialen Gerechtigkeit ist von John Rawls. Er entwirft Prinzipien und Merkmale für die Grundlagen eines gerechten Gesellschaftsvertrages. Rawls geht von einer Gesell-schaft aus, deren Mitglieder höchst unterschiedliche Interessen, Erfahrungen und re-ligiöse Überzeugungen haben und fragt sich, wie vor diesem Hintergrund gesellschaftliche Integration gelingen kann.
Seiner Überzeugung nach ist ein gesellschaftliches Vertragsmodell dann mit einer dauerhaften Perspektive verbunden, wenn es sich an „Fairness“ orientiert und die sozialen Institutionen sich an der Gerechtigkeit ausrichten. Rawls Auffassung nach sollte Gerechtigkeit als Fairness verstanden werden und die Grundlage des Gesell-schaftsvertrages bilden.
„Für uns ist erster Gegenstand der Gerechtigkeit die Grundstruktur der Gesellschaft, genauer: die Art, wie die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen Grundrechte und -pflichten und die Früchte der gesellschaftlichen Zusammenarbeit verteilen.“ (Rawls 1979, 23) Der Begriff sozialer Gerechtigkeit liefert Maßstäbe zur Beurteilung der Ver-teilungsstrukturen der gesellschaftlichen Grundstrukturen. Für Rawls ist charakteris-tisch, dass seine Grundsätze sich an Gleichheit ausrichten und Ungleichheit nur unter Einschränkungen zustimmungsfähig ist
In einem genialen Gedankenexperiment gelingt es ihm, die Rationalität einer Ausrich-tung an Gleichheit zu zeigen. Dabei soll man sich eine Gruppe von Menschen vor-stellen, die nicht wissen, welche persönlichen Ausstattungsmerkmale (z. B. Geschlecht, soziale Herkunft, Hautfarbe, persönliche Fähigkeiten, Gesundheitszu-stand) sie haben und welche Position (z. B. Einkommen, Wohlhaben) sie in einer von ihnen zu wählenden Gesellschaft haben. Rawls argumentiert: Unter diesem ‚Schleierdes Nichtwissens’ ist es rational, eine Gesellschaft zu wählen, die all ihren Mitglie-dern möglichst gleiche Rechte, Pflichten und Chancen einräumt.
Die Gerechtigkeitsgrundsätze sind (1.) daran ausgerichtet, dass jeder die gleichen Grundfreiheiten besitzt und (2.) dass soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten so gestaltet sind, dass sie zu jedermanns Vorteil dienen und mit Ämtern und Positionen verbunden sind, die allen offen stehen (ebd., 81). Zulässige Ungleichheiten sollen zum Wohle der weniger Begünstigten beitragen.
Die Verteilungsgerechtigkeit hängt bei Rawls von den Rahmeninstitutionen ab, die Einfluss auf die Verteilung des gesellschaftlichen Gesamteinkommens und die Um-verteilung haben. Da der Markt keine Rücksicht auf Bedürfnisse von Individuen oder Gruppen nimmt, müssen diese anders berücksichtigt werden.
Die Soziale Arbeit kann sich u. a. auf Rawls beziehen um deutlich zu machen, dass:
• es rationale Gründe für die Begründung von Fairness als gesellschaftliche Grundlage gibt und sie keineswegs auf fürsorglich politische oder moralische Begründungen angewiesen ist,
• die Verwirklichung sozialer Gerechtigkeit in den Institutionen der Gesellschaft angelegt ist und von diesen umgesetzt werden muss,
• die Fragen der Verteilung und der Umverteilung bereits bestehender Wohlstands- und Einflussdifferenzen im Rahmen eines rationalen, ethisch legi-timierten und demokratisch verfassten Diskurses behandelt werden können – und müssen.
• eine Gesellschaft, die Anspruch auf minimale Standards des fairen Umgangs erhebt und dem Ziel dauerhafter Integration verpflichtet ist, eine Institution wie die Soziale Arbeit erfordert.
Amartya Sen: Vorrang für Freiheit und Verwirklichungschancen
Armut sollte als Mangel an Verwirklichungschancen begriffen werden. Im Konzept von Sen (2002) werden Verwirklichungschancen zum zentralen Kriterium für soziale Gerechtigkeit. Die Ermöglichung oder die Verwehrung (bzw. die Nicht-Gewährung) von substanziellen Freiheiten und Möglichkeiten, die es Menschen erlauben das Le-ben zu führen, das sie anstreben, wird zum gesellschaftlichen Maßstab für Verwirkli-chungschancen.
„Was im „Ansatz der Verwirklichungschancen“ einer Wertung unterliegt, sind entwe-der die realisierten Funktionen (das, was jemand tatsächlich zu tun fähig ist) oder die Menge der Verwirklichungschancen von verfügbaren Alternativen (ihre wirklichen Chancen)“ (ebd., 96).
Sens Theorie setzt bei den Verwirklichungschancen an und rückt die grundlegende Freiheit der Menschen ins Zentrum – sein Plädoyer gilt der Erweiterung von Freiheit und Wohlstand, sowie der Beeinflussung des sozialen Wandels und der wirtschaftli-chen Produktion. Die leitende Idee ist, dass Menschen ein für sie erstrebenswertes Leben führen möchten und die realen Entwicklungsmöglichkeiten auszuweiten sind (Sen 2007, 348).
Sen möchte seine Theorie der sozialen Gerechtigkeit nicht an der Einkommenshöhe von Einzelnen oder Familien orientieren, denn Armut ist nicht nur Mangel an Ein-kommen sondern auch an Zugangschancen zu Bildung, Gesundheit, Kontakten, Kommunikation und kulturellen Gütern. Aber auch wenn er die Vorstellung von Ar-mut als Mangel an Verwirklichungschancen von dem Ansatz trennt, der diese über niedriges Einkommen definiert, betont er, dass die „beiden Perspektiven miteinan-der gekoppelt“ sind (ebd., 113).
Vor diesem Hintergrund entsteht die Verpflichtung von Staaten entsprechende An-strengungen zur Ausweitung von Bildungsangeboten, Gesundheitssorge und der Gleichbehandlung von Männern und Frauen zu unternehmen. Der Spannungsbogen von materiellem Einkommen und Verwirklichungschancen umfasst die Möglichkeiten ein unversehrtes Leben zu führen.
Sein Credo ist, dass die Erweiterung der Freiheiten, die auf Verwirklichungschancen beruhen, eine insgesamt positive Entwicklung für Individuen und Gesellschaften si-chert und darüber hinaus auch die wirtschaftliche Entwicklung unterstützt.
Der Ansatz bildet in den Reichtums- und Armutsberichten der Regierung und zahlrei-chen Studien die theoretische Referenz. Innerhalb der Sozialen Arbeit wird er positiv aufgenommen und bei Stellungnahmen zur Armut berücksichtigt. Die Soziale Arbeit profitiert von ihm durch:
• Die Zurückweisung der unangemessenen Gegenüberstellung von Freiheit und sozialen Leistungen
• Die Überwindung der Perspektiveneingrenzung auf die Einkommenssituation
• Den Bezug auf Belastungskombinationen von Einzelnen, Familien und Grup-pen
• Die Aufmerksamkeit dafür, individuelle Perspektiven zu berücksichtigen und sie mit staatlichen Angeboten und ihrem Versagen in Bezug zu setzen
• Die Betonung individuell und gruppenspezifisch unterschiedlicher Verwirkli-chungschancen begründet die Notwendigkeit der Sozialen Arbeit, die sozial-staatlichen Leistungen individualisiert und auf die soziale Situation und den sozialen Raum abgestimmt anzubieten (zu kontextualisieren).
Axel Honneth: Umverteilung als Anerkennung
Honneth 2003 stellt seine Überlegungen zu einer Konzeption sozialer Gerechtigkeit im Rahmen einer Gesellschaftstheorie vor. Ihn bewegt die Frage, wo die Dynamik zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Interesse ihrer Bürger ihre Basis hat. Er rechnet in der gegenwärtigen Gesellschaft mit verschiedenen Grundty-pen von moralisch bedeutsamen Konflikten.
Sein Ausgangsgedanke ist, dass jeder Mensch in seiner Entwicklung und Identitäts-bildung auf soziale Umgangsformen in seiner Umgebung angewiesen ist, die auf wechselseitiger Anerkennung gründen. Die Möglichkeiten zur Verwirklichung von in-dividueller Autonomie sind auf die Erfahrungen sozialer Anerkennung angewiesen, da nur so ein intaktes Selbstverhältnis entwickelt werden kann (ebd., 213). Der Weg-fall solcher Anerkennungsbeziehungen hat Erfahrungen von Missachtung oder De-mütigung zu Folge.
Im Kern geht es ihm um eine Sozialordnung, in der die Individuen die Möglichkeit für eine intakte Identität der Fürsorge, der rechtlichen Gleichstellung und der sozialen Wertschätzungen (auch für ihre Leistungen) haben (ebd., 215). Diese drei Anerken-nungsprinzipien (Liebe, Wertschätzung, Recht) bilden den normativen Kern einer Konzeption sozialer Gerechtigkeit (s.o.).
Im Gegensatz zu Miller und dessen drei Gerechtigkeitsprinzipien ergeben sich Hon-neths Anerkennungsprinzipien nicht aus der Übereinstimmung mit empirischen Be-funden, den Grundformen von Sozialbeziehungen oder begründbaren Verteilungsgrundsätzen sondern aus den historisch hervorgebrachten Bedingungen einer gesellschaftlichen Sozialordnung.
Honneth ordnet seinen Vorschlag in eine Tradition kritischer Gesellschaftstheorie ein. Für ihn ist es leitend, die sozialen Kämpfe der Gegenwart theoretisch angemessen zu analysieren und sich mit Fragen ihrer moralischen Bewertung zu beschäftigen. Er hält es für angemessen „… Verteilungskonflikte als die spezifische Art von Anerken-nungskämpfen zu interpretieren, in denen um die angemessene Bewertung der sozi-alen Beiträge von Individuen oder Gruppen gestritten wird“ (ebd. 202).
Honneth möchte die Gesellschaft von innen heraus rekonstruieren, um die sozialen Kommunikationsvorgänge zu beschreiben. Er will die Ordnungen analysieren, nach denen die Individuen mit sozialer Anerkennung rechnen können und zu einer ‚sozia-len Existenz’ gelangen (ebd. 287). Es geht um die Legitimität von Ansprüchen auf soziale Anerkennung, bspw. die Bedingungen für gelingendes Aufwachsen, die Be-rücksichtigung der Lebensbedingungen für Alleinerziehende oder die Förderung der Kinder von Migranten. Im Rahmen einer Gegenüberstellung von System- und Sozial-integration sieht Honneth ein Primat der Sozialintegration, da ungerechte Sozialord-nungen letztlich sozial akzeptiert werden müssten um ihre Stabilität zu erlangen.
Für die Soziale Arbeit bietet der Ansatz von Honneth u.a. folgende Perspektiven:
• Fragen der Gerechtigkeit sind grundlegend mit unserer Sozialordnung und der Akzeptanz der Gesellschaftsordnung verbunden
• Gerechtigkeit ist eng mit den Bedingungen des Aufwachsens und den Möglich-keiten wechselseitiger Anerkennung verbunden
• Anerkennung ist eine individuelle, sozialgeschichtliche und gesellschaftliche Kategorie von grundlegender Bedeutung für das Zusammenleben von Men-schen
• Gesellschaftliche Dynamiken hin zu mehr Gerechtigkeit sind mit moralisch ge-fassten Konflikten verbunden und nicht zwangsläufig und vorrangig Konflikte entsprechend dem Schema Arbeitgeber versus Arbeitnehmer.
David Miller: Grundsätze sozialer Gerechtigkeit
Nach Millers Theorie muss soziale Gerechtigkeit im Diskurs der Gesellschaft veran-kert sein. Sein Theorieentwurf will die Brücke zwischen den empirischen Forschun-gen über unser Gerechtigkeitsempfinden und Theorien schlagen, die sich auf die Kraft ihrer Argumente verlassen.
Zu den Annahmen seines Ansatzes gehört, dass er sich auf einen Nationalstaat, die Institutionen und die Mitglieder der Gesellschaft bezieht (was er u.a. pragmatisch be-gründet). Eine Kultur der sozialen Gerechtigkeit betrifft Staat, staatliche und nicht-staatliche Institutionen sowie die einzelnen Gesellschaftsmitglieder. Die Soziale Arbeit ist ein Akteur dieses Diskurses, sowohl über die staatlichen Jugendämter als auch über die großen Wohlfahrtsorganisationen. Für die Soziale Arbeit besteht durch Einmischung die Möglichkeit eine Kultur der sozialen Gerechtigkeit zu fördern. Mit dem Begriff der Verteilung, so seine Warnung, ist nicht die Vorstellung einer zentra-len Vergabestelle verbunden sondern die Zielsetzung, das Zusammenspiel gesell-schaftlicher Strukturen und Praktiken im Blick zu behalten.
Die Theorie der sozialen Gerechtigkeit von Miller nimmt ihren Ausgangspunkt nicht in den Grundgütern des Lebens oder der Verteilungsprinzipien des Gesellschaftsver-trages sondern in den „Grundformen sozialer Beziehungen“. Unseren Erfahrungen entspricht es, dass wir Gerechtigkeitsvorstellungen, die wir an andere richten, mit dem jeweiligen Beziehungskontext des anderen verbinden. Den drei Grundformen, in denen Bürger die Bedeutung sozialer Gerechtigkeit verankern, ordnet er Vertei-lungsprinzipien zu:
In solidarischen Gemeinschaften (Face-to-face-Beziehungen, Familien, Vereinen, Teams, wo man sich kennt und die Grenzen zwischen Notwendigkeiten und weiterei-chenden Wünschen unterscheiden kann) ist das Verteilungsprinzip „Bedarf“.
In Zweckverbänden hat jeder Interessen, verfolgt Ziele und Zwecke, die am ehesten in der Zusammenarbeit mit anderen verwirklicht werden können (Miller 2008, 68) und der Verdienst des Einzelnen wird an den Zielen des Verbandes gemessen - hier ist das leitende Verteilungsprinzip „Leistung“.
Die Staatsbürgerschaft ist die weitere grundlegende Vergesellschaftungsform, da sich die Bürger nicht nur in Gemeinschaften und Zweckverbänden begegnen son-dern als Mitbürger mit Rechten und Pflichten - deshalb gilt hier das Verteilungsprinzip „Gleichheit“.
Für die Soziale Arbeit bietet die plurale Theorie der sozialen Gerechtigkeit von Miller erhebliche Vorzüge; sie:
• bezieht das Gerechtigkeitsempfinden der Bürger ein
• nimmt ihren Ausgangspunkt in sozialen Grundformen, was den Arbeitsfeldern und dem Leistungsspektrum der Sozialen Arbeit entspricht
• bietet kontextbezogenen, sich ergänzende und nicht ausschließende, Gerech-tigkeitsprinzipien sowie eine alternative Sicht auf die Debatte Gleichheit und Gerechtigkeit,
• liefert mit den Prinzipien Bedarf, Verdienst und Gleichheit für die Arbeitsfelder und die Organisationen Sozialer Arbeit praktikable Instrumente für die Entwick-lung von Zielsetzungen, Brückenkonzepten (zu Medien, Organisationen und Sozialräumen) und Hinweisen für die Reflexion.
Soziale Gerechtigkeit als Herausforderung für die Soziale Arbeit
Konflikte
Der Streit um die Normen gerechter Zuteilung von Gütern wie Einkommen, Bildung und Gesundheit und die Eigenverantwortung der Bürger wird härter. Hier ist die Soziale Arbeit gefordert. Soziale Arbeit ist mit den in der Politik und den öffentlichen Medien vorherrschenden Ideen von sozialer Gerechtigkeit konfrontiert und muss sich mit deren praktischen Folgen auseinandersetzen. Sie ist administrativ direkt an der Umsetzung gesetzlich normierter sozialer Gerechtigkeit beteiligt und steht für Mitbürgerinnen und Mitbürger teilweise stellvertretend als „der Sozialstaat“. Durch diese Eingebundenheit kommt es zu einem Spannungsverhältnis - das Soziale Arbeit nicht aufheben sondern nur gestalten kann. Eine Folge ist die Notwendigkeit, gesellschaftliche Verhältnisse und gesellschaftliche Interpretationen von sozialer Gerechtigkeit kritisch zu hinterfragen. Dies ist vorraussetzungsreich und bedarf vor allem einer tragfähigen Grundlage.
Werte
Als Wertmaßstab zur Beurteilung von Ausgrenzung, Marginalisierung, Ungleichheit und Benachteiligung kommt vor allem soziale Gerechtigkeit in Frage. Um auf die gesellschaftlichen Herausforderungen antworten zu können, ist in der Sozialen Arbeit ein professionsinterner Diskurs erforderlich. Nur so können Anschluss– und Kritikfähigkeit zu wohlfahrtsstaatlichen Schlüsselbegriffen und sozialpolitischen Vorstellungen gewährleistet werden. Von einem professionsinternen Gerechtigkeitsdiskurs sind Auswirkungen auf die Praxis, Theoriebildung und Ausbildungsinhalte zu erwarten. Soziale Gerechtigkeit wird dann zu einem wesentlichen Maßstab für Methoden, Prinzipien, Entscheidungen, Projekte und Programme der Sozialen Arbeit.
Selbstverständnis
Eine wesentliche Konfliktlinie in der Sozialen Arbeit verläuft entlang verschieden gewichteter Grundauffassung von Sozialer Arbeit. Sehr stark zusammengefasst kann man unterscheiden zwischen denen, die sich eher an den Vorstellungen von personenbezogener Hilfe, Beratung, therapeutischer Unterstützung und Fürsorge orientieren und denen, die stärker die sozialstrukturelle Seite der Sozialen Arbeit, den gesellschaftlichen Kontrollauftrag, die politische Seite vertreten wissen möchten.
Die Legitimationsbasis ‚Förderung sozialer Gerechtigkeit’ betrifft besonders strittig - in der Sozialen Arbeit und nach außen - die Beziehungen, die sich entweder den Motiven Fürsorge oder soziale Kontrolle als Leitunterscheidungen Sozialer Arbeit zuordnen lassen.
Das Aufgabenmuster Fürsorge mit dem Titel Care, wird traditionell nicht mit der Rückfrage an die Geldgeber verbunden, ob nicht ein Anspruch die Grundlage für die weitere Kooperation sein sollte. Ähnlich soll soziale Kontrolle übernommen, aber nicht mit der Rückfrage versehen werden, ob nicht soziale Verhaltensmuster der vermeintlich unbeteiligten, unbescholtenen Bürger in die Ursachenkette eingebunden sind (z.B. vorenthaltene Anerkennung, ignorierte Bildungsprobleme usw. als Problemursache anerkannt werden sollten).
Leistungen
Mit pluralen, normativ ausgewiesenen Konzeptionen von sozialer Gerechtigkeit, die an den Vorstellungen von intakter Identität, rechtlicher Gleichstellung und sozialen Beiträgen ausgerichtet sind, kann sich die Soziale Arbeit kompetent einmischen. Soziale Arbeit ist an der Herstellung von sozialen Voraussetzungen zum Erwerb individueller Autonomie ausgerichtet. Die Erfahrung sozialer Anerkennung ermöglicht soziales Verhalten und Identität. Soziale Gerechtigkeit ist an soziale Anerkennung gebunden: Ohne dass eine Person, Gruppe oder ein beeinträchtigender Vorgang anerkannt wird besteht keine Aussicht auf Einbezug in einen Gerechtigkeitsdiskurs.
Soziale Arbeit bietet direkte Erfahrungen zu den Fragen und Problemen der Umverteilung, Ermöglichung von Teilhabe und Unterstützung wechselseitiger Anerkennung. Ihr Zugang zu belastenden Lebenssituationen und sehr verschiedenen Milieus bringt sie in eine eigenständige, nicht austauschbare Position.
Öffentliche Wahrnehmung
Die aktuellen Auseinandersetzungen zeigen den Bedarf an öffentlicher Wahrnehmung von sozialen Benachteiligungen auf. Sowohl in wissenschaftlichen Debatten als auch in den öffentlichen Medien ist eine Ausgrenzung von sozialen Schicksalen und sozialen Situationen zu beobachten. Die doppelte Ausgrenzung, erst der Betroffenen und dann der Sozialen Arbeit als gesellschaftliches Reformprojekt, geben Anlass Selbstwahrnehmung und Außendarstellung der Sozialen Arbeit neu zu bestimmen. Die Soziale Arbeit ist auf der Interaktions-, der Organisations- und der gesellschaftlichen Systemebene mit den Themen sozialer Gerechtigkeit konfrontiert. Kersting (2003) hat entsprechend vorgeschlagen drei Ebenen gesellschaftlicher Gerechtigkeitsdiskurse zu unterscheiden: als Projekt, das heißt kleinformatige Gerechtigkeitsdiskurse, die sich mit unterschiedlichen Verteilungsregionen und sozialstaatlichen Sicherungssystemen beschäftigen, als Programm das sozialstaatliche Konzeptionen begründet. Mit Hilfe dieser Programme wird die Spannung zwischen Marktsystemen und kollektiven Versorgungssystemen bearbeitbar. Moderne Gesellschaften basieren auf Kooperationsbeziehungen, wie sie in Unternehmen, Bürokratien und Organisationen gelten und Solidaritätsgemeinschaften, wie z.B. die Krankenkassen. Zum Dritten schlägt Kersting (2003) vor, soziale Gerechtigkeit auf der Ebene des Prinzips zu betrachten. Dadurch wird möglich, unterschiedliche gerechtigkeitsethische Entwürfe des Sozialstaats zu vergleichen und zu diskutieren. Hier geht es um Fragen nach dem Stellenwert von Gleichheit, Selbstbestimmung oder Verantwortlichkeit.
Ausblick
Der Gerechtigkeitsdiskurs im Rahmen der Sozialen Arbeit bildet die Grundlage sich kompetent und aussichtsreich in die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zur sozialen Gerechtigkeit einzumischen. Deutlich wird, dass Autonomie und Wirkungsstärke der Sozialen Arbeit nicht ohne Differenzen und Konflikte erreicht werden können. Die Effekte sozialer Gesetzgebungen auf Armutsrisiken sollten belastbar dokumentiert werden, um die notwendige Aufmerksamkeit zu finden. Die Erfahrungen von Gewalttätern im Hinblick auf die Berücksichtigung ihrer Bedürftigkeit, rechtlichen Autonomie und Wertschätzungen ihrer Leistungen können rekonstruiert werden. Dazu sind Entscheidungen und Handlungsräume der sozialen Arbeit erforderlich. Um soziale Gerechtigkeit muss in der Sozialen Arbeit gestritten werden.
Soziale Arbeit und soziale Gerechtigkeit
Soziale Arbeit ist ein notwendiger Bestandteil ausdifferenzierter und dynamischer Gesellschaften zur Realisation von sozialem Ausgleich unter dem Motto von sozialer Gerechtigkeit und eine Voraussetzung für Demokratie. Soziale Arbeit sichert in konkreten Lebenslagen die individuelle Autonomie, die ein normatives und faktisches Basiselement der Demokratie darstellt. Denn: Soziale Teilhabe ermöglicht politische Teilhabe. Sozialstaatliche Institutionen/Organisationen sind unverzichtbar für die Autonomie der Bürger, sie ermöglichen und beeinflussen die Zugänge zu Erwerbsarbeit, sozialer Kommunikation und sozialem Nahraum sowie den gesundheits- und sozialpolitischen Leistungen. Die Soziale Arbeit bietet Anschlüsse an die sozialstaatlichen Leitbegriffe wie Freiheit, Sicherheit, Solidarität. Mit ihren Organisationen stellt sie die gesellschaftlichen Kopplungen her, über die soziale Gerechtigkeit befördert wird. Ihr stehen dabei eine Reihe von Konzepten und Instrumenten zur Verfügung. Beratungen stellen hier nur ein methodisches Instrument dar. Dabei dürfen Fragen sozialer Gerechtigkeit nicht im Format individueller Einschränkungen oder Schuld eingegrenzt werden. Es besteht die Gefahr, im strukturellen Zuschnitt, im Subtext des Handelns, eine Verantwortungszuordnung vorzunehmen, die dekontextualisiert und den Klienten wiederum die Lasten aufbürdet. Das Leistungsspektrum der Sozialen Arbeit ist anders gelagert und höchst anspruchsvoll. Sie leistet für den Sozialstaat:
- Beiträge zur konkreten Sicherstellung der Grundbedürfnisse nach Kommunikation, Bildung, Einkommen, Gesundheit sowie der Anerkennung sozialer Problemlagen;
- fachliche und sozialpolitische Informationen und Beiträge zur Gestaltung sozialer Teilhabe und von Verteilungsgerechtigkeit;
- Entwicklung von sozialer Fachkompetenz sozialer Institutionen und von Basiszugängen für die Sozialarbeitswissenschaft und sozial verankerter Nachbarwissenschaften;
- Förderung von Fragen der sozialen Gerechtigkeit als gesellschaftlicher Reflexionswert für die Medien, die Politik und andere Funktionsbereiche der Gesellschaft, wie Recht, Religion, Medizin und Wirtschaft.
- Die Ermöglichung von Teilhabe und die Vermittlung sozialer Gerechtigkeit sind Eigenwerte an denen sich Soziale Arbeit ausrichtet und für die sie eigenständige – durch kein anderes System ersetzbare – Leistungen erbringt.
Systemische Praxis und soziale Gerechtigkeit
In seiner systemtheoretischen Analyse der Sozialen Arbeit weist Baecker (1994) Gerechtigkeit als eine für die Soziale Arbeit konstituierende Formel aus, weil Gerechtigkeit immer auf Nicht-Gerechtigkeit verweist und prinzipiell unabgeschlossen bleibt. Soziale Arbeit kann immer an Fragen sozialer Gerechtigkeit anschließen (während der therapeutische Sektor an Gesundheit anschließt). Wird Soziale Arbeit als gesellschaftliches Funktionssystem verstanden, kann man seine vorrangigen Leistungen im Schaffen von sozialen Adressen und Voraussetzungen für Wahlmöglichkeiten von Inklusion und Exklusion sehen. Soziale Arbeit bestimmt gesellschaftliche Exklusionsrisiken als soziale Probleme und bearbeitet sie mittels Exklusionsvermeidung, Inklusionsvermittlung oder stellvertretender Inklusion. Eine systemische Praxis zielt darauf ab, Fälle zu bestimmen, Einfluss auf das Verlaufsgeschehen sowie auf die Fallumgebung und die sozialen Strukturen zu nehmen. Klar ersichtlich ist, dass dabei keine Einschränkung auf therapeutische Interaktionsmuster erfolgen kann und sich soziale Gerechtigkeit nicht als Nebenprodukt von Beratungsprozessen einstellt. Das Motto »Die Klienten können dann viel besser für ihre Rechte eintreten« reicht eben hinten und vorne nicht aus. Im Folgenden wird ein systemischer Arbeitsbogen mit dem Thema soziale Gerechtigkeit verbunden.
Beobachterperspektive wählen
Soziale Gerechtigkeit sollte in der Beobachterperspektive fest verankert sein. Soziale Arbeit schließt als fachlich positiv bewertetes Ziel mit ihren Strategien sowohl an Inklusion als auch an Exklusion an. Sie fördert zum Beispiel Voraussetzungen für soziale Gerechtigkeit, in dem sie beabsichtigte Exklusion ermöglicht (z.B. beim Auflösen sozialer Gewaltverhältnisse) und stellvertretend für andere Kommunikation eröffnet. Mit der Konstruktion einer sozialen Adresse wie »Schulverweigerer« gehen Entscheidungen über Interpretations- und Interventionspfade einher. Die Wahl der Beobachterperspektive bestimmt die Position
im multiperspektivischen Netzwerk, von dem aus die Zugänge zu den Themen der sozialen Gerechtigkeit ermöglicht, erleichtert oder erschwert werden. Strukturelle Kopplungen zu Adressaten oder Organisationen anderer Funktionssystem gehen mit der Wahl einer geeigneten Beobachterperspektive einher (Hosemann, 2003).
Kontextualisieren
Indem soziale Gerechtigkeit zu einer Kontextmarkierung wird, verändert sich der Kontext. Fälle sind mit einer doppelten Entscheidung verbunden: (a) für den Fall und (b) dessen Zuordnung zu einem Programm. Mit der Fallmodellierung wird für die Adressaten ein Kontext geschaffen, in dem soziale Gerechtigkeit mehr oder weniger einen Stellenwert hat. Wer geschickt Programme zu nutzen weiß, kann mehr Optionen eröffnen. Darüber hinaus gilt es aber, entsprechende Programme zu etablieren. Soziale Arbeit kann unter Bezug auf sozialstaatliche Leitbegriffe Programme schaffen, neben dem Arbeitssektor sind hier im Bildungsbereich dringend Entwicklungen notwendig. Gibt die Soziale Arbeit sozialen
Lagen und Ereignissen einen Titel, werden Anschlüsse an sozialstaatliche Semantiken möglich, werden Zugänge zu Ressourcen erschlossen oder verhindert und werden Selbstbeschreibungen von Adressaten gerahmt.
Beeinflussen
Die arbeitsleitenden Fragen sollten soziale Driftwinkel berücksichtigen, da sich
Exklusionen wechselseitig verstärken können. Als weitere Merkmale des systemischen Vorgehens können exemplarisch genannt werden:
1. Die Sensibilität gegenüber Ursache-Wirkungs-Konstruktionen: Konstruktionen im Sinne »dieser Mensch ist arbeitslos, süchtig oder krank aufgrund seiner Verhaltensweisen« können solchen gegenübergestellt werden wie »dieser Mensch ist arbeitslos, süchtig oder krank aufgrund von sozialen Wechselbeziehungen «. Arbeitsansätze mit sozialräumlichen Dimensionen eröffnen neue Perspektive und führen aus der Gegenüberstellung von Helfen oder politischer Anwaltschaft heraus.
2. Systemische Praxis beinhaltet die Arbeit mit sozialen Systemen und deren Werten, Kriterien und Handlungsmustern, die Personen soziale Teilhabe ermöglichen. Wird soziale Teilhabe als Bestandteil sozialer Gerechtigkeit in ein systemisches Konzept von Inklusion und Exklusion übersetzt, stärkt dies den Zugang zur Fallumgebung und zu den sozialstrukturellen Bedingungen. Hierzu kann ein Dialog mit den Klienten entstehen.
3. Die Deutung von Konflikten als altersgemäße Entwicklungsaufgabe, als Hinweis auf strukturelle Benachteiligung, als Ausdruck einer nicht verbalisierten Ungerechtigkeit oder als soziales Defizit, Verwahrlosung bzw. Krankheit, leiten professionelle Zuständigkeiten und Handlungsstrategien. Systemische Praxis kann mit Sowohl-als-auch-Strategien arbeiten, Konflikte positiv werten und mit Unabgeschlossenheit konstruktiv umgehen.
Reflektieren
Soziale Gerechtigkeit stellt ein Kernelement der Sozialen Arbeit dar, sich und ihre Leistungsangebote dauerhaft anbieten zu können – entsprechend bedeutsam ist die Qualität der Reflexion. Dazu gehört: Nach Effekten im Sinne einer Verstärkung des Ausschlusses von Personen, nach Steuerungsimpulsen, die soziale Differenzen nicht abbauen, sondern potenziell erhöhen, zu fragen oder ob Klienten in Interaktionen Unrecht oder Demütigungen erfahren müssen. Zentral sollte die Fragestellung sein, ob durch Soziale Arbeit eine begründete Aussicht auf erweiterte soziale Teilhabe für ihre Klienten besteht. Dem in Organisationen üblichen konzeptionellen Rückgriff auf die Thematiken sozialer Gerechtigkeit ist das organisatorische Wissen um das Profil der Ausgrenzungen von Adressaten, der organisationsadäquaten Modellierung der Problemstellungen und dem Wissen um die Begrenzungen der Mitarbeiter an die Seite zustellen. Dass die Differenzen zwischen Anspruch und Wirklichkeit beobachtet wird, ist eine notwendige, aber keine hinreichende Reflexionsleistung – erst die Reflexion, wie mit den Differenzen umgegangen wird, entscheidet über systemische Qualität.
Perspektive: Aufdecken, nicht abdecken
Beobachtungen beruhen auf dem Vorgang von Unterscheiden und Bezeichnen, das heißt, auch in einer systemischen Praxis werden Ungleichheiten und soziale Ungerechtigkeiten vom beobachtenden System erfasst (was über die einzelnen Professionellen hinausweist). Der Aufbau der dafür erforderlichen Selbstreferenz wird in Aus- und Fortbildungseinrichtungen geschaffen. Ebenso bedeutsam sind die entsprechende Haltung und die persönliche Kompetenz, Themen der sozialen Gerechtigkeit durch systemische Praxis der sozialen Gerechtigkeit in die Kommunikation einzubringen. Die systemische Perspektive begünstigt die professionellen Fähigkeiten: Netze zusammenhängender Operationen zu erkennen, das Verhältnis von Umverteilung und Anerkennung methodisch zu bearbeiten sowie zu reflektieren. In den System-Umwelt Beziehungen der Sozialen Arbeit sind die Potenziale eingelassen, die Voraussetzungen zur Ermöglichung wechselseitiger Anerkennung und zu mehr Verteilungsgerechtigkeit beinhalten. Die systemische Soziale Arbeit kann ihr besonderes Potential dann erfolgreich
einbringen, wenn sie sich:
- auf soziale Gerechtigkeit bezieht;
- als Soziale Arbeit versteht, an deren Erfahrungen und Strukturen anknüpft und die Stärken ihrer fall- und feldübergreifenden Konzepte umsetzt;
- die spezifischen Stärken des systemischen Denkens zu Nutze macht;
- nicht vor Konflikten und Unabgeschlossenheit scheut;
- auf soziale Systeme bezieht und dabei die systemtheoretischen Handlungsstrategien mit den systemtheoretischen Analysen der gesellschaftlichen Funktion der Sozialen Arbeit verbindet.
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