5. Ethikbedarf in der Praxis: Spannungserfahrungen und Moral Distress


Die oben genannten Gründe für den steigenden Ethikbedarf sind allgemein historischen und gesellschaftlichen Entwicklungen geschuldet.

Es werden jedoch aus der Praxis immer mehr Stimmen laut, die auch auf ethische Konflikte, Probleme und damit verbundenen Reflexionsbedarf hinweisen. Unter dem Begriff der „Spannungserfahrung“ hat Eberhard Amelung in seinem schon 1986 erschienenen Lehrbuch „Ethisches Denken in der Medizin“ Anlässe ethischen Nachdenkens in der Praxis beschrieben:

„Ethische Reflexionen beginnen meist mit Irritationen. Es wird eine Spannung erfahren zwischen dem, was man gelernt und bisher als sinnvolle Lebensgestaltung betrachtet hat, und den elementaren Forderungen, mit denen man plötzlich konfrontiert wird. Man wird sich eine solche Differenzerfahrung, solche Erfahrung der Brüche innerhalb der Wirklichkeit und innerhalb ihrer Interpretationen, Begründungen und Normierungen kaum komplex genug vorstellen können. Es sind nicht irgendwelche abstrakten Werte oder Normen, die in Spannung zur Wirklichkeit stehend entdeckt werden, sondern ganz konkrete Idealbilder oder normative Vorstellungen, die in der Lebensgeschichte der Beteiligten Bedeutung erlangt haben: der Sinn des Berufes, das Bild vom Arztsein, Ideale des Helfens und Pflegens. Womöglich werden die Ideale und Lebensziele erst in dem Moment bewusst, wo sie anlässlich einer ganz bestimmten Erfahrung als bedroht erscheinen. Betroffen, womöglich sogar verletzt, wurde das Gewissen der Betroffenen, wenn sie fragen: Was sollen wir jetzt tun? Warum wurde dies und nicht jenes gewünscht, angefordert, getan? Was sollen wir jetzt tun, nachdem die Dinge im Rahmen herkömmlicher Begründungen keinen rechten Sinn mehr machen. Man sieht sich einer Forderung gegenüber gestellt der man mit dem „man tut das so“ nicht mehr gerecht wird. Sie ist die ethische Forderung.“ (Amelung E., Nüchtern M., Einführung. In: Amelung E. (Hrsg.) Ethisches Denken in der Medizin. Ein Lehrbuch. Berlin, Heidelberg 1992, S. 1-18)

In einer der führenden amerikanischen Fachzeitschriften für biomedizinische Ethik, dem Hastings Center Report, ist in der Ausgabe 1/2010 ein Artikel mit dem Titel: „Moral Distress: A Growing Problem in the Health Professions“ erschienen. Die Autorinnen fordern darin, dass Maßnahmen ergriffen werden sollen, die Mitarbeiterinnen der Gesundheitsberufe unterstützen, wenn diese angesichts wachsender Intensität moralischer Spannungserfahrungen („Moral Distress“) und zunehmender Zeitnot mit ethischen Konflikten konfrontiert werden.