Systemische Perspektiven für die Soziale Arbeit

1. Begriffsklärung

Inklusion ist zu einem umgangssprachlichen Begriff geworden, der für „dazu gehören“ steht. In den Sozialwissenschaften werden über Inklusion und Exklusion gesellschaftliche Zugänge und Ausschlüsse von Personen, Gruppen oder Regionen thematisiert. Mit Inklusion/Exklusion werden sowohl ein Prozess (eine Person wird inkludiert) wie ein Zustand beschrieben (eine Personengruppe ist exkludiert).

Inklusion ist, u.a. durch die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, zu einem sozialpolitisch positivem bewertetem Ziel geworden. Das Begriffspaar Inklusion/Exklusion macht auf eine in ‚Innen’ und ‚Außen’ (Zentrum und Peripherie) gespaltene Gesellschaft aufmerksam und bezieht sich auf das Risiko, dass ein Teil der Bevölkerung von der Mehrheitsgesellschaft diskriminiert wird.

2. Systemtheoretische Interpretation

Die systemtheoretische Interpretation im Anschluss an Luhmann richtet mit dem Begriff Inklusion das Verständnis von gesellschaftlichem Zusammenhalt neu aus und beschreibt damit die Form in der Funktionssysteme Personen thematisieren und kommunikativ einbeziehen. Mit Exklusion wird zum einen die logisch andere Seite von Inklusion und zum anderen ein sozialer Ausschluss (ein Prozess an dem mehrer beteiligt sein können) beschreiben. Das Problem des gesellschaftlichen Zusammenhalts wird interpretiert als die Frage, …„ wie Menschen temporär an den Kommunikationszusammenhang gesellschaftlicher Teilsysteme gekoppelt werden oder wie – im Falle von Exklusion – eine solche Kopplung ausbleibt“ (Nassehi 1999, 133). Das Schema Inklusion/Exklusion kann an allen gesellschaftlichen Funktionssystemen beobachtet werden. Allgemein kann man Inklusion als die Teilhabe von Personen an einer bestimmten Kommunikation verstehen. In diesem Beitrag wird Inklusion als spezifische Form der Steuerung von Grenzen sozialer Systeme begriffen, beispielsweise auch von Familien, Peer-groups  und Nachbarschaftssystemen. Als Steuerung soll die Definition und die Umsetzung der Teilhabebedingungen durch die Organisation oder das soziale System verstanden werden. Inklusion im umfassenden Sinn soll die Relevanz von Menschen aus der Perspektive von sozialen Systemen bezeichnen.

Mit dem Inklusionsbegriff wird die gesellschaftliche Integration nicht mehr über die Gesamtpersönlichkeit des Menschen, vorgängige Zugehörigkeiten oder seine Zustimmung zu sozialen Verhaltensmustern bestimmt sondern über zeitlich begrenzte Teilhabemöglichkeiten an gesellschaftlichen Funktionsbereichen und ihren Organisationen - vermittelt über Kommunikation. „Das Prinzip der Inklusion ersetzt jene Solidarität, die darauf beruht, dass man einer und nur einer Gruppe angehörte.“ (Luhmann 1980, 31). Da der Gesamtbevölkerung der Zugang zu den Funktionssystemen der Gesellschaft prinzipiell offen steht, wird Generalinklusion zur gesellschaftlichen Form und Exklusion zur Generalform der Organisationen. So können Inklusion und Exklusion praktiziert werden: Die Verantwortung für die Zugehörigkeit wird disponibel und auf den einzelnen Menschen zurechenbar.  Über ihre Organisationen können Funktionssysteme ihre Offenheit für alle regulieren und durch Teilhaberegeln und Rollenfilter Zugangshürden aufbauen.

Mit der Form Inklusion/Exklusion decken Organisationen die personenbezogenen Folgen ihrer Unterscheidungen ab und definieren sie als außerhalb ihrer Zuständigkeiten. In dem Organisationen über die Möglichkeiten verfügen Personen zu entlassen, Jugendliche auszubilden oder nicht, können sie sich von den Konsequenzen ihrer Entscheidungen abkoppeln (z.B. psychische Folgen von Entlassungen und Arbeitslosigkeit, junge Männer oder Frauen ziehen aus einer Gegend aufgrund von Arbeitslosigkeit weg). Diese Konzentration auf die spezifischen Logiken und Erfordernisse des Funktionsbereiches erbringt eine besondere Steigerung der Leistungen von Organisationen (und der Gewinne). Die Konsequenzen der Unterscheidung Inklusion/Exklusion werden für die Organisation (das eigene Funktionssystem) nicht bzw. nur hochselektiv beachtet. Dies gilt insbesondere für die Effekte anderer Funktionssysteme. Die durch Exklusion entstehende Ungleichheit von Personen, Gruppen oder Regionen wird von den einzelnen Funktionssystemen nicht wahrgenommen: Erhebliche Ungleichslagen, Armut,  Exklusionsdrifte sind die Folgen -  aber für die Organisationen zunächst unsichtbar und ohne Zwang zu verantwortlichem Handeln. Das Funktionssystem Soziale Arbeit ergibt sich aus der Notwendigkeit der Beobachtung, Beschreibung und Adressierbarkeit dieser Prozesse. Die Organisationen der Funktionssysteme verlagern die Anpassung an die Inklusionsregeln auf die Individuen und erhöhen indirekt die Bedeutung der sozialen Kompetenzen und Handlungsmuster. Die gesellschaftliche Dynamik hat zur Folge, dass Inklusionen in formale Strukturen als fragil und riskant zu begreifen sind. Trotz des generellen Inklusionsversprechens hängen die konkreten Zugänge in gesteigertem Maße von den individuellen Leistungen der Personen ab. Die Angewiesenheit auf Inklusionen in soziale Nahräume, Netze und Milieus enthält einen stummen Zwang zur sozialen Disziplinierung sowie das permanente Risiko sozial ausgeschlossen zu werden.

3. Praktische Überlegungen

Für Adressaten ist es hilfreich zu wissen, was von ihnen verlangt wird, um für eine Organisation relevant zu sein, die Hilfe anbietet. Über Zugänge wird prinzipiell zweimal entschieden: Zunächst durch ein Programm, präzisiert in Konzepten sowie der Ausrichtung an Adressatengruppen, und in der Umsetzung durch die Zuordnung des Einzelfalls als zum Programm passend. Soziale Konflikte, Armutsverhältnisse, psychische Belastungen können für Organisationen leichter über Personen als relevant identifiziert werden. Soziale Beziehungen sind schwerer zu erfassen, Personen können gezählt, verantwortlich, als Schicksale emotionalisiert werden. Sie eignen sich als Einzelfälle. Die Perspektive auf Personen hat zur Folge, dass soziale Situationen erst über Personen und Kriterien aufgelöst werden, um dann wieder über die Beobachtung von Inklusions-/Exklusionsprozesse rekonstruiert und interventionsbezogen aufbereitet zu werden. Das sozialpolitische Ziel von Inklusion mündet in der Forderung nach Ausgestaltung von inklusionsfördernden Gemeinwesen und entsprechend sensiblen Organisationen (z. B. beim Index für Inklusion für Kindergärten oder Schulen).

Über die Beschreibung der individuellen Kopplungsgeschichte an die Familie, das soziale Umfeld und deren Organisationen lassen sich Personen  in ihrer Inklusion/-Exklusionsindividualität nachzeichnen. Vor dem Hintergrund des „Nicht-Dazugehörens“ sind die individuellen Leistungen zu erkennen, wie Menschen sich ihre Welt aus Zugehörigkeiten geschaffen haben (Exklusion ist die Generalform der modernen Gesellschaft). Die systemische Praxis kann als Beitrag zu einem Seitenwechsel der Form von Exklusion zu Inklusion und von Inklusion zu Exklusion beschrieben werden. Das heißt: Sie schließt als fachlich positiv bewertetes Handeln sowohl an Inklusion als auch an Exklusion an, z. B. beim Zugang zu Organisationen oder zu Nachbarschaftssystem und beim Auflösen sozialer Gewaltverhältnisse oder der Bindung an vergangene Beziehungen. Bei einem gewollten Prozess der Exklusion wird Inklusion zum mitgeführten Außenwert (und umgekehrt). Inklusions- und Exklusionsmanagement gehören zusammen und stellen keinen Gegensatz dar (auch Exklusionsprozesse verbinden). Inklusionen und Exklusionen sind zeitgleich als relevant und parallel zu verschiedenen sozialen Systemen und Organisationen zu beobachten. Aus der Verschiebung der Aufmerksamkeit, z.B für Inklusionsprozesse an Stelle der Trauerarbeit oder der Hoffnung auf Ausgleich von Verletzungen, ergeben sich soziale Freiräume und Autonomie. Die Steigerung der Handlungsmöglichkeiten der Klienten kann durch die Reflexion der Inklusions/Exklusionsgeschichte und die Begleitung von Übergängen erreicht werden. Werden Inklusionen/Exklusionen als soziale Verhältnisse im Dialog mit den Klienten - unabhängig von Verhaltensweisen, die als „Eintrittskarten“ in die Organisation galten – beeinflusst, verändern sich problematische Kontexte und ermöglichen sozial passendere Lebensweisen.

Literatur zur Vertiefung:

Booth, T./Ainscow, M. (2003): Index für Inklusion, übers., für deutschsprachige Verhältnisse bearb. und hrsg. von Boban, I./Hinz, A., Halle-Wittenberg

Luhmann, N. (1980): Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Band 1, Frankfurt a.M.

Nassehi, A. (1999): Inklusionen. Organisationssoziologische Ergänzungen der Inklusions-/Exklusionstheorie (mit Gerd Nollmann), in: Differenzierungsfolgen, Opladen/Wiesbaden, S. 133-150

Hinweis: Der Text ist eine überarbeitete Fassung eines Beitrages für das Buch 101 Begriffe der Systemtheorie (Carl Auer Verlag 2011).

4. Soziale Exklusion und soziale Inklusion als ein europäisches Konzept

Sehen Sie sich dazu folgendes Dokument an:

5. Hoffnungen und Befürchtungen

Die Debatte um Inklusion und Exklusion bringt heftige Auseinandersetzungen hervor. 
Zum einen werden damit Hoffnungen auf neue verbesserte Leistungen verbunden zum anderen Befürchtungen vorgetragen, dass damit soziale Trennungen verfestigt werden.
Mit den folgenden Texten werden die beiden Positionen anschaulich.

Die Gegenüberstellung von Hinz (2002, 359) zeigt für den Schulbereich den positiven Erwartungshorizont.

Praxis der Integration

Praxis der Inklusion

  • Eingliederung von Kindern mit bestimmten Bedarfen in die allgemeine Schule
  • Differenziertes System je nach Schädigung
  • Zwei-Gruppen-Theorie (behindert/nichtbehindert)
  • Aufnahme von behinderten Kindern
  • Individuumszentrierter Ansatz
  • Fixierung auf die institutionelle Ebene
  • Ressourcen für Kinder mit Etikettierung
  • Spezielle Förderung für behinderte Kinder
  • Individuelle Curricula für einzelne
  • Förderpläne für behinderte Kinder
  • Anliegen und Auftrag der Sonderpädagogik und Sonderpädagogen
  • Sonderpädagogen als Unterstützung für Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf
  • Ausweitung von Sonderpädagogik in die Schulpädagogik hinein
  • Kombination von (unveränderter) Schulund Sonderpädagogik
  • Kontrolle durch Expertinnen
  • Leben und Lernen für alle Kinder in der allgemeinen Schule
  • Umfassendes System für alle
  • Theorie einer heterogenen Gruppe (viele Minderheiten und Mehrheiten)
  • Veränderung des Selbstverständnisses der Schule
  • Systemischer Ansatz
  • Beachtung der emotionalen, sozialen und unterrichtlichen Ebenen
  • Ressourcen für Systeme (Schule)
  • Gemeinsames und individuelles Lernen für alle
  • Ein individualisiertes Curriculum für alle
  • Gemeinsame Reflexion und Planung aller Beteiligter
  • Anliegen und Auftrag der Schulpädagogik und Schulpädagogen
  • Sonderpädagogen als Unterstützung für Klassenlehrer, Klassen und Schulen
  • Veränderung von Sonderpädagogik und Schulpädagogik
  • Synthese von (veränderter) Schul- und Sonderpädagogik
  • Kollegiales Problemlösen im Team

Die Risiken des Exklusionsbegriffes

  • Das Begriffspaar spaltet in eine Kerngesellschaft und einen Rand.
  • Die Übergänge und Zonen der Gefährdung werden eher unsichtbar als sichtbar.
  • Die Ursachen von Armut und Ausgrenzung werden mit den Betroffenen thematisch an den Rand verlagert.
  • Soziale Ungleichheiten innerhalb der Inkludierten und der Exkludierten werden vernachlässigt.
  • Formen des Drinnen und doch Draußen (Armut trotz Arbeit) geraten aus dem Blick.
  • Irgendeine Form des Drinnen lässt für die meisten Menschen immer finden.
  • Inklusion wird mit dem Anschluss an die Erwerbsarbeit gleichgesetzt.
  • Soziale Schutzrechte können als Auschlussursachen beschrieben werden, weil eine einfache Gegenüberstellung möglich ist.