Einführung Fallarbeit
Website: | Lernplattform Moodle | KSH München |
Kurs: | 1.2B/VHB "Einführung in systemtheoretische Grundlagen" - Musterkurs (Kirchner) |
Buch: | Einführung Fallarbeit |
Gedruckt von: | Gast |
Datum: | Freitag, 22. November 2024, 02:19 |
Was ist typisch für eine systemisch orientierte Herangehensweise in der Sozialen Arbeit?
Wir wollen hier von einer Definition der systemischen Herangehensweise in der Sozialen Arbeit ausgehen, die Raum für unterschiedliche Arbeitsfelder, methodische Konzepte und Ebenen der Intervention lässt. Wir sprechen daher von systemischer Praxis, wenn sich die Arbeit ausdrücklich auf eine Sicht- und Vorgehensweise stützt, die
- sich auf Systeme bezieht, d. h. z. B. die Systemgeschichte einbezieht, Systeme in ihrem Eigen-Sinn und ihren wechselseitigen Abhängigkeiten betrachtet,
- Systeme unter den Aspekten von Inklusion und Exklusion (sozialen Folgen) beobachtet,
- systemische Grundsätze als Orientierung in der Praxis nutzt,
- sich selbst in die Beobachtung einbezieht und als Teil von verschiedenen Systemen betrachtet.
Die Entwicklung systemischer Praxis in der Sozialen Arbeit korrespondiert deutlich mit der Geschichte der Familientherapie. Hier werden Ihnen Modelle angeboten, die sich zwar zum Teil an Überlegungen aus der Familientherapie orientieren, diese aber erweitern. Zu den Austauschprozessen systemischer Praxis gehört, dass sie Ideen und Anregungen aus anderen Theorien und Diskursen aufnimmt, so gibt es intensive Bezüge zum Lebensweltansatz und zu feministischen Konzepten.
Die Frage nach typischen Merkmalen für eine systemisch orientierte Herangehensweise in der Sozialen Arbeit wird in diesem Text über folgende inhaltliche Kriterien beantwortet:
Einschränkend ist allerdings anzumerken, dass zwar Alles, was gesagt wird, von einem Beobachter gesagt wird, dieser aber nicht Alles sagen kann. Folgende Passagen beziehen sich z. B. vorrangig auf die Praxis der Jugendhilfe.
Inhalt systemischer Sozialer Arbeit
In der folgenden Passage wird eine Antwort auf die Frage gegeben, anhand welcher Inhalte sich systemische Sozialarbeitspraxis bestimmen lässt.
Gegenstand der Sozialen Arbeit
Soziale Arbeit entfaltet ihre Wirkung unter Einbezug des Alltags, der Lebenswelt und der gesellschaftlichen Teilhabe. Entsprechend beobachtet und berücksichtigt sie soziale Situationen unter Bezugnahme auf verschiedene Systeme, um den Handlungsraum der Klienten zu erweitern. Die Erweiterung ihrer sozialen Handlungsmöglichkeiten belässt ihnen ihre Autonomie und Würde und sichert die Entwicklung der Gesellschaft insgesamt durch die Förderung sozialer Gerechtigkeit.
Über den Gegenstand Sozialer Arbeit verdichtet sich die fachliche Diskussion und es zeichnen sich zunehmend akzeptierte Konturen ab. Die Dimensionen anhand derer Soziale Arbeit ihre Bezüge in der Praxis beobachtet und modelliert, lassen sich aus einer systemischen Perspektive systematisieren hinsichtlich:
- KlientInnen,
- Organisationen,
- Funktionssystemen,
- der Gesellschaft insgesamt.
Diese Ordnungsgesichtspunkte ermöglichen eine weitere Konkretisierung der Leistung Sozialer Arbeit. Soziale Arbeit bezieht sich auf:
- verschiedene Adressaten und Adressatengruppen,
- Relationen zwischen sozialen und gesellschaftlichen Systemen (z. B. auch zwischen den Generationen),
- Bearbeitung von Differenzen (vgl. Rauschenbach 1994),
- Inklusion/Exklusion (vgl. z. B. Bommes/Scherr 1996).
Im Kontakt mit KlientInnen sind für die Soziale Arbeit unterschiedliche Systeme von Bedeutung. Daher ist es notwendig, soziale Situationen in unterschiedlicher Weise zu beobachten und zu beachten. Die spezifische Leistung der Sozialen Arbeit besteht darin, soziale Konstellationen unter Bezugnahme auf verschiedene soziale Systeme zu interpretieren, unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten zu eröffnen und soziale Entwicklungen zu unterstützen.
Ein Beispiel:
Streitet eine KlientIn mit einer MitarbeiterIn des Sozialamts, dann kann dieser Streit unterschiedlich interpretiert werden. Möglich wäre z. B. die Ebene
- der Persönlichkeit der Klientin,
- der Interaktion von KlientIn und BeraterIn,
- rechtlicher Vorschriften,
- der beteiligten Organisationen,
- gesellschaftlicher Teilsysteme (z. B. Wirtschaft, Recht),
- kultureller Muster von Männern und Frauen.
An diesen Möglichkeiten knüpft Soziale Arbeit an. Sie ist multiperspektivisch ausgelegt.
Ort der Leistung: Zwischen den Systemen
Soziale Arbeit hat es mit mehreren Adressaten zu tun und richtet sich an verschiedenen Systemen mit unterschiedlichen Geschichten, Besonderheiten und Erwartungslagen aus. Eine Voraussetzung, dass dies in der Praxis gelingen kann, besteht in der genauen Reflexion und Überprüfung von Kooperationen und Parteinahmen. Manchmal ist die Ambivalenz, das Sitzen zwischen Stühlen oder das switchen der Bezüge in der Praxis für SozialarbeiterInnen schwer auszuhalten (Kleve 1999a). Um zwischen den Systemen bleiben und erfolgreich an diese anschließen zu können, ist eine Kenntnis deren interner Logik notwendig. Deswegen fördert Wissen aus Gebieten, wie z. B. Recht, Medizin, Wirtschaft und Psychologie die Kompetenz des Wahrnehmens, Erklärens, Verstehens, Bewertens und Handelns. Ebenso notwendig ist das Wissen um das Zusammenwirken unterschiedlicher Kräfte und Akteure in der Lebenswelt der Adressaten.
Soziale Arbeit steht in ihren Praxisvollzügen vor der Notwendigkeit, entscheiden zu müssen, auf welche Systeme sie sich in ihrer Arbeit bezieht. Bei der Bestimmung, welche Verknüpfungsleistung zwischen welchen Systemen sie erbringt, ist ein hohes Maß an kommunikativem Managementgeschick erforderlich.
Um
- sich für die KlientInnen engagieren zu können,
- die eigenen Ressourcen nicht zu verbrauchen,
- und nachhaltige Lösungen mitgestalten zu können,
sind verschiedene Zusammenhänge zu analysieren und zu beeinflussen.
Ob auf der Ebene von Interaktion mit KlientInnen oder auf der Ebene von Organisationssystemen - Soziale Arbeit findet ihren Ort zwischen den Systemen.
Art der Leistung: Anschlüsse an Systeme fördern
Das System Soziale Arbeit hat Adressaten, Klienten und andere soziale Systeme in seiner Umwelt im Blick und leistet Vermittlungsdienste zwischen Systemen, z. B. zwischen Klientensystemen und den Organisationen verschiedener Funktionssysteme (z. B. der Wirtschaft, dem Bildungssystem). Sie tut dies, indem sie mit und für ihre KlientInnen Anschlüsse an Organisationssysteme wie Firmen oder Schulen und soziale Systeme wie Familien und Nachbarschaften fördert. Je nachdem, wie gut Klienten der Anschluss an Interaktionen, Organisationen bzw. an gesellschaftliche Teilsysteme gelingt, werden ihre Chancen der Teilhabe an gesellschaftlichen Gütern verbessert. Mit dem Begriffspaar Inklusion/Exklusion lassen sich diese Teilhabebedingungen von Personen beobachten und beschreiben. Indem Soziale Arbeit Anschlüsse an Systeme für die Gesellschaft reflektiert und fördert, leistet Soziale Arbeit einen Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit.
Im Kontext zunehmend risikobelasteter gesellschaftlicher Verhältnisse sind die Bedingungen, unter denen Menschen von Systemen für relevant erachtet werden, oft unübersichtlicher und belastender geworden. Soziale Arbeit, die Anschlüsse an Systeme unterstützt, reflektiert diese Risiken. Systemische Praxis produziert Inklusions/Exklusionschancen, aber auch -risiken, die es erfordern, bedacht und reflektiert zu werden.
Theorie
Um etwas zur inhaltlichen Ausgestaltung systemischer Sozialarbeit sagen zu können, sind theoretische Vorstellungen erforderlich. Hinsichtlich systemtheoretischer Konzepte gibt es einen langen Diskurs, der sich mit den Anschlussstellen und der Nutzbarmachung von Theorie für die Praxis beschäftigt. Ohne an dieser Stelle auf diese Debatten konkreter eingehen zu können, sollen nun einige Werke und AutorInnen benannt werden. Die Literaturauswahl (siehe auch Literaturliste), die als Hinweis zum Weiterlesen zu verstehen ist, stammt aus unterschiedlichen systemtheoretischen Denkrichtungen und nimmt zum Teil unterschiedliche Traditionen auf.
Systemische Grundsätze des Vorgehens
Die folgenden sechs Grundprinzipien veranschaulichen, woran systemische Praxis ausgerichtet werden kann.
a. Respekt und Bescheidenheit
Systemisches Arbeiten berücksichtigt die Autonomie und Eigendynamik der Systeme (Selbstreferentialität), mit denen sie arbeitet. Der damit eng verbundene sensible Umgang mit der eigenen ExpertInnenschaft spiegelt sich wieder im Nachdenken über Problem und Lösung mit den Beteiligten und in der Befürwortung von ziel- und ergebnisoffenen Hilfeprozessen.
b. Zirkularität und Vernetztheit
Systemische Praxis nimmt Regeln und Muster von Kommunikation in den Blick. So wird weniger die Suche nach der Ursache, sondern die Frage des Umgangs mit Kausalitätsvorstellungen in der sozialen Praxis und die Frage nach den strukturellen Kopplungen zwischen Systemen (z. B. zwischen Familie und Gesellschaft) favorisiert. Diese Perspektive verdeutlicht die Zirkularität und Vernetztheit sozialer Zusammenhänge.
c. Leitdifferenz soziale Teilhabe
Als Leitdifferenz der Sozialen Arbeit in Deutschland kann ausgewiesen werden, dass sie sich über soziale Teilhabe/Nicht-Teilhabe (Stichwort: Inklusion/Exklusion) organisiert. Nicht nur die individuelle Kompetenz, Gesundheit oder Bildung, sondern der soziale Zugang, die gesellschaftliche Teilhabe und die Eigenverantwortung bilden Leitmotive. Ein wesentlicher Bezugspunkt für die Soziale Arbeit ist soziale Gerechtigkeit, weshalb sie auch andere gesellschaftliche Systembereiche (z. B. Arbeitsmarkt, Wohnungsmarkt) thematisiert.
d. Ressourcen- und Lösungsorientierung
Statt vorrangig auf Schwächen, Defizite und Probleme im Klientensystem zu achten, fokussiert eine systemische Vorgehensweise vorhandene bzw. noch verdeckte Stärken, Kompetenzen, Ressourcen und mögliche Lösungen. Damit wird eine positive Entwicklung begünstigt. Die folgenden beiden Schaubilder veranschaulichen eine zirkuläre Dynamik, die mit diesem Perspektivenwechsel einhergehen kann:
"Teufelskreis"
"Engelskreis"
e. Kontextsensibilität
Systemische Praxis geht sensibel mit der Kontextualität jeden Verhaltens bzw. jeder Kommunikation um. Dadurch gewinnt sie Zugänge zu sozialem Sinn und zu Möglichkeiten der Veränderung. Die Frage, an welchen Kontexten die jeweiligen Systeme ihre Entscheidungen und Handlungen ausrichten, bezieht sich u. a. auf soziale und gesellschaftliche Traditionen, Verhältnisse und Wertvorstellungen.
f. Reflexivität
Da in der Praxis mehrere Aspekte und Beteiligte angesprochen werden, muss eine Auswahl getroffen werden, was, wie, wann, warum und wer aktuell thematisiert wird. An diesem Selektionsprozess sind SozialarbeiterInnen wesentlich mitbeteiligt. Soziale Arbeit versteht sich aus den genannten Gründen als wissens- und reflexionsbasierte Wissenschaft und Praxis.
Systemische Ethik
Die Frage nach dem, was als typisch für eine systemisch orientierte Soziale Arbeit gelten kann, berührt auch ethische Aspekte. Folgende Gesichtspunkte beleuchten ethische Überlegungen aus einer systemischen Perspektive:
Menschenbild
Eine systemtheoretische Perspektive öffnet einen differenzierten und neuen Zugang zu Vorstellungen vom Menschen. Der "ganze Mensch" besteht aus einem Zusammenspiel mehrerer eigenständiger Systeme (organisches, psychisches, soziales System). Diese operieren verschiedenartig und eigenständig. Indem die einzelnen Bereiche zunächst als konsequent getrennt voneinander behandelt werden, wird eine andere Auffassung der Integration und Zusammenschau ermöglicht: Der einzelne Mensch kommt erst vor diesem Hintergrund zu seinem Recht, als einmalige spezifische Konfiguration verstanden zu werden. Gesellschaftliche Zusammenhänge wie Sprache, kulturelle Erscheinungen und gesellschaftliche Machtverhältnisse werden so nicht dem Einzelnen oder der Gesellschaft alleine aufgebürdet. Damit ist die ethische Frage berührt, wer für soziale Probleme verantwortlich gemacht wird.
Die Betonung des Ausmaßes an Autonomie durch das Theorieelement "Selbstreferentialität von Systemen" verweist SozialarbeiterInnen auf den Respekt vor KlientInnen und deren Eigen-Sinnigkeiten (Sinn). SozialarbeiterInnen können angesichts der Herausforderung von Klienten, ihr Leben zu bewältigen, so handeln, dass die Anzahl ihrer Möglichkeiten vermehrt werden (vgl. Foerster 1993a: 78).
Soziale Gerechtigkeit
Soziale Arbeit fördert soziale Gerechtigkeit, indem sie es Menschen ermöglicht, an unserer Gesellschaft und ihren Ressourcen teilzuhaben und sie in demokratischen Verfahren mitzugestalten. Diese Leistungsbestimmung lässt sich mit systemtheoretischen Vorstellungen verbinden. Luhmann (1984): "Alle Moral bezieht sich letztlich auf die Frage, ob und unter welchen Bedingungen Menschen einander achten bzw. missachten" (ebd.: 318). In der sozialen Praxis lassen sich diese Bedingungen beobachten und reflektieren. Dieser von SozialarbeiterInnen vorgenommene Akt lässt sich als angewandte Ethik verstehen.
Für die Soziale Arbeit, die sich auf die Bedingungen und die Gestaltung von Inklusions- und Exklusionsbedingungen bezieht, sind ethische Fragen mit Aspekten der sozialen Gerechtigkeit verknüpft. Entsprechend mischt sie sich in normative Diskurse der Gesellschaft ein.
Nachhaltigkeit
Eine systemische Vorstellung von Ethik richtet sich an den konkreten und längerfristigen Auswirkungen des Handelns aus. Unter Berücksichtigung der Komplexität und Vernetztheit sozialer Verhältnisse reflektiert systemische Praxis die Möglichkeiten, nachhaltige soziale Entwicklungen zu fördern. Folgende Aspekte und Fragestellungen dienen der Arbeit dabei als Bezugspunkte:
- welche bisherigen Lösungsversuche können als gescheitert gelten?
- welche unbeabsichtigten Nebenfolgen von Hilfe können in den Blick genommen werden?
- auf welcher Systemebene lässt sich ein als Problem definierter sozialer Zusammenhang nachhaltiger lösen
Aufgrund der Einheit von Beobachter und Beobachtungsgegenstand kann als eine ethische Richtschnur für SozialarbeiterInnen die Reflexion der eigenen Annahmen genannt werden. In der systemischen Praxis geht es um das permanente Bedenken, dass es sich bei Beobachtungen um Entscheidungen und Akte des Auswählens handelt. Eine so verstandene Ethik kann als implizite Verantwortungsethik begriffen werden.
Weitere Literaturangaben
- Bardmann: Luhmanns Systemtheorie in der Reflexion Sozialer Arbeit. 2000
- Hollstein-Brinkmann: Soziale Arbeit und Systemtheorien. 1993
- Merten: Systemtheorie Sozialer Arbeit. Neue Ansätze und veränderte Perspektiven. 2000
- Miller: Systemtheorie und Soziale Arbeit. Entwurf einer Handlungstheorie. 2001
Gesellschaftliche Positionsbestimmungen:
- Bommes/Scherr: Soziologie Sozialer Arbeit. 2000
- Merten: Autonomie der Sozialen Arbeit. Zur Funktionsbestimmung als Disziplin und Profession. 1997
- Staub-Bernasconi: Soziale Arbeit und Ökologie 100 Jahre vor der ökologischen Wende. 1989
- Weber/Hillebrandt: Soziale Hilfe - Ein Teilsystem der Gesellschaft. 1999
Systemische Praxis:
- Hohm: Urbane soziale Brennpunkte, Exklusion und soziale Hilfe. 2003
- Kleve/Haye/Hampe-Groser/Müller: Systemisches Case Management. 2003
- Pfeifer-Schaupp: Systemische Praxis. Modelle - Konzepte - Perspektiven. 2002
- Ritscher: Systemische Modelle für die Soziale Arbeit. 2002
- Stindl-Nemec: Wieder dabei. Systemische Sozialarbeit in der gemeindenahen Psychiatrie. 2001
Ethische Fragen:
- Foerster: KybernEthik. 1993a
- Kron-Klees: Reflexionen über systemisches Handeln und Ethik. 1998
- Krüll: Systemisches Denken und Ethik. 1987a
- Rotthaus: Willkür verringern - Versuch einer Ethik des Helfens. 1996