Inklusion / Exklusion

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Integration/Desintegration und Inklusion/Exklusion. Eine Verhältnisbestimmung aus sozialarbeitswissenschaftlicher Sicht

Heiko Kleve

Integration/Desintegration und Inklusion/Exklusion

Eine Verhältnisbestimmung aus sozialarbeitswissenschaftlicher Sicht

Der Text ist publiziert in: sozialmagazin, 25. Jg., 12/2000, S. 38-46.

 

I.

 Bevor ich theoretisch entfalte, worum es mir mit diesem Beitrag geht, möchte ich einleitend exemplarisch die Problematik der Verhältnisbestimmung von Integration/Desintegration und Inklusion/Exklusion an einem aktuellen Beispiel verdeutlichen, und zwar anhand der Debatte um die doppelte Staatsbürgerschaft:

 In der Bundesrepublik Deutschland wird seit einigen Jahren heftig darüber diskutiert, ob die sogenannten ausländischen MitbürgerInnen neben der Staatsbürgerschaft ihres Herkunftslandes bzw. des Herkunftslandes ihrer Eltern oder Großeltern auch die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten könnten. Die Diskussion über Pro und Contra der doppelten Staatsbürgerschaft spaltet sich in zwei Lager: Auf der einen Seite argumentieren die Gegner tendenziell dafür, dass die Menschen, die in Deutschland dauerhaft leben möchten, sich auch für die Integration in die deutsche Kultur, mit allen dazugehörigen Verbindlichkeiten wie moralischen und kulturellen Vorstellungen etc. entscheiden sollten. Erst diese Integration sichere das friedliche Zusammenleben von Menschen anderer ethnischer Zugehörigkeit mit den Deutschen. Und diese Integration werde gefördert, wenn man lediglich die Möglichkeit habe, sich für eine Staatsbürgerschaft zu entscheiden. Die Gegner der doppelten Staatsbürgerschaft verbinden also die Inklusion in das politische System der BRD, welche mit der deutschen Staatsbürgerschaft einhergeht, und alle weiteren Inklusionsmöglichkeiten, die die politische Inklusion voraussetzen, mit der Integration in ein wie immer gefasstes einheitliches deutsches Kultur-, Moral- bzw. Normengefüge; mit anderen Worten, sie identifizieren implizit einerseits (politische, staatliche) Inklusion und (normative, kulturelle etc.) Integration sowie andererseits (normative, kulturelle etc.) Desintegration und (politische, staatliche) Exklusion.

 Die Befürworter der doppelten Staatsbürgerschaft wollen diese rechtlich verankerte Mentalität aufbrechen; sie entkoppeln sozusagen die Inklusionsmöglichkeiten der Menschen von deren Integrationen. Demnach sollen auch diejenigen eine Chance haben, am öffentlich-politischen Leben in Deutschland teilzunehmen – z.B. das aktive und passive Wahlrecht bekommen und alle anderen Rechte, die mit der staatsbürgerlich-politischen Inklusion einhergehen –, die sich entschließen, kulturell in Deutschland eher desintegriert zu bleiben oder – ambivalent, unentschieden – zwischen bzw. mit zwei Kulturen zu leben; mit anderen Worten, es wird keine eindeutige Entscheidung für eine wie auch immer geartete deutsche Integration erwartet, um die Möglichkeiten der politischen Inklusion zu erhalten. Inklusion soll – möglicherweise trotz Desintegration, trotz Differenz – möglich sein; aus den MitbürgerInnen sollen BürgerInnen werden können. „Es geht darum, dem jeweils anderen oder der anderen Gruppe zuzubilligen, dass sie ein Recht auf Anwesenheit haben und unterschiedliche Gruppe[n] nebeneinander koexistieren zu lassen, ohne dass sie direkt miteinander agieren müssen“ (Jakubeit 1999, S. 92), ohne – so füge ich hinzu – sich sozial integrieren zu müssen. Mit dieser Sichtweise wird also die Vorstellung aufgebrochen, die zwischen Integration und Inklusion sowie zwischen Desintegration und Exklusion ein Gleichheitszeichen setzt; vielmehr soll politische, juristische Inklusion etc., die zuallererst über die Staatsbürgerschaft vermittelt wird, möglich werden, ohne jedoch die Differenz bezüglich der unterschiedlichen Integrationsformen hinsichtlich ethnischer, kultureller, sozialer, kurz: lebensweltlicher Zugehörigkeiten aufheben, negieren, einebnen oder aushebeln zu wollen.

 Im Folgenden soll es mit Bezug auf die gesellschaftlichen Funktionen und Möglichkeiten der Sozialen Arbeit darum gehen, die Sichtweise, die im Beispiel den Befürwortern der doppelten Staatsbürgerschaft zugeschrieben wird, theoretisch zu entfalten. Mit anderen Worten, es soll explizit gezeigt werden, was in dem Beispiel implizit deutlich wird: dass nämlich zwischen Integration/Desintegration und Inklusion/Exklusion strukturelle Unterschiede markiert werden können, die beschrieben und erklärt werden sollten. Die These lautet, dass Sozialarbeitswissenschaft und Sozialarbeitspraxis an gesellschaftstheoretischen Beobachtungs- und Selbstreflexionsmöglichkeiten gewinnen, wenn sie es vermeiden, die Begriffspaare Integration/Desintegration und Inklusion/Exklusion synonym zu verwenden, wie man dies derzeit jedoch noch beobachten kann.

 Zur Entfaltung der These wird zunächst nach dem kurzen empirischen ein eher theoretischer Prob-

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lemaufriss versucht (II.), um sodann das Begriffspaar Integration/Desintegration zu präzisieren und es von Inklusion/Exklusion abzugrenzen sowie die vermeintliche Funktion der Sozialen Arbeit als ‚Integrationshilfe‘ zu hinterfragen (III.). Im Anschluss daran wird das Konzept von Inklusion/Exklusion sowie das Spannungsverhältnis von Inklusion und Integration dargestellt und die diesbezüglichen Funktionen der Sozialen Arbeit skizziert. Die (möglicherweise provozierende) These lautet: Damit Menschen in die Gesellschaft inkludiert werden können, müssen sie potentiell sozial desintegriert bzw. eher lose integriert sein (vgl. dazu bereits Kleve 1997; 1999, S. 184ff./210ff.); und genau dabei, nämlich eine solche potentielle soziale Desintegration bzw. eher lose Integration auszuhalten bzw. zu erreichen, hilft Soziale Arbeit (IV.). Schließlich soll das eingangs angeführte Beispiel in einigen abschließenden Worten zum Umgang mit dem/den desintegrierten Fremden und – aus aktuellem Anlass – bezüglich der Sozialen Arbeit mit fremdenfeindlichen Gruppen (z.B. jugendlichen Skinheads) noch einmal aufgegriffen werden (V.).

II.

 In der allgemeinen disziplinübergreifenden sozialwissenschaftlichen Debatte, aber auch vermehrt in den disziplinären und professionellen Diskursen der Sozialarbeit hat in den letzten Jahren ein Begriffspaar die Runde gemacht, das bisher in der Sozialarbeit allerdings in seiner gesellschaftstheoretischen Bedeutung kaum präzisiert, geschweige denn reflektiert und näher bestimmt worden ist: nämlich das Begriffspaar ‚Inklusion/Exklusion‘ (siehe als Ausnahme die systemtheoretischen Arbeiten von Baecker 1994; Fuchs/Schneider 1995; Bommes/Scherr 1996). Während in der sozialarbeitswissenschaftlichen Tradition von ‚Integration/Desintegration‘ gesprochen wird, um die Möglichkeiten der sozialen Partizipation (Integration) bzw. die Ausgrenzung von Individuen von dieser Partizipation (Desintegration) sowie die diesbezüglichen (vermeintlich re-integrierenden) Funktionen der Sozialarbeit zu beschreiben (vgl. Mühlum 1996, S. 170ff./181ff.), so wird nun offenbar angefangen, von ‚Inklusion/Exklusion‘ zu sprechen. Der Wechsel der Begrifflichkeiten – von Integration/Desintegration zu Inklusion/Exklusion – geht allerdings vonstatten, ohne dass hinreichend verdeutlicht wird, warum dieser Begriffswechsel erfolgt und was mit diesem ‚neuen‘ Begriffspaar anders als mit dem ‚alten‘ wie in den Blick gerät. Mein Eindruck ist, man wechselt lediglich die Begriffe, weil man sehr kurzsichtig, also sehr unscharf gesellschaftstheoretische Diskurse beobachtet, die vermehrt mit dem Begriffsapparat ‚Inklusion/Exklusion‘ zu arbeiten beginnen, um Ausgrenzungs- bzw. Ausschließungsprozesse von Personen aus der Gesellschaft zu beschreiben.

 

Der Exklusionsbegriff beispielsweise „hat sich in wenigen Jahren in den Sozialwissenschaften und im öffentlich-politischen Diskurs etabliert“ (Stichweh 1997, S. 123). Zum einen wird der Begriff von der Armuts- und Ungleichheitsforschung systematisch verwendet und zum anderen wird er mittlerweile – insbesondere von Frankreich kommend – auch zunehmend außerhalb der Sozialwissenschaften in öffentlichen, z.B. massenmedialen Kommunikationen zur Bezeichnung des Ausschlusses immer größerer Bevölkerungsgruppen aus gesellschaftlichen Systemen benutzt.

 Aufgrund dieser Zunahme, wissenschaftlich und öffentlich-politisch mit ‚Inklusion/Exklusion‘ zu kommunizieren, wird man mittlerweile offensichtlich bereits dazu verführt, mit diesem Begriffspaar zu argumentieren, ohne es selbst einer Befragung, geschweige denn einem Definitionsversuch zu unterziehen. So schreiben beispielsweise Gabriele Flösser u.a. (1996, S. 29), dass Sozialarbeit die gesellschaftliche Instanz sei, „die eigentlich die Inklusion der Gesellschaftsmitglieder zur Aufgabe hat, [aber] durch Zuwendung zu den schon Inkludierten die Exklusion der nicht mehr in den Blick genommenen vorantreibt“; und so wird weiter argumentiert, dass sich die „Methoden und Instrumente [...] wie auch das Selbstverständnis der Sozialen Arbeit daran messen lassen müssen, ob und inwieweit sie einen Beitrag zur gesellschaftlichen Inklusion bzw. Exklusion leisten“ (ebd.). Nur, was bedeutet in diesem Zusammenhang Inklusion bzw. Exklusion? Könnte man möglicherweise anstatt Inklusion und Exklusion auch Integration und Desintegration schreiben? Oder wäre damit der Sinn ein anderer? Diese Fragen sind nicht beantwortbar, wenn man es unterlässt, die beiden Begriffspaare gesellschaftstheoretisch zu präzisieren und voneinander abzugrenzen. Sollte eine solche Abgrenzung nicht möglich sein – was hier widerlegt werden soll –, dann könnte man getrost auf den Export der neuen Begrifflichkeit in die sozialarbeiterischen Diskurse verzichten.

 Den Eindruck aber, dass es sich bei den beiden Begriffspaaren um theoretische Werkzeuge handelt, die dieselben oder zumindest ähnliche Bedeutungen transportieren, bekommt man selbst dann, wenn man sozialwissenschaftlich sehr reflektierte Arbeiten zur Sozialen Arbeit, wie etwa jene von Roland Merten, untersucht; auch hier werden m.E. Integration/Desintegration und Inklusion/Exklusion nicht in ihrer Bedeutung ausreichend voneinander differenziert, sondern vielmehr wird man angehalten, „Soziale Arbeit als Integrationsarbeit“ (Merten 1996, S. 81) zu verstehen, um sodann jedoch mit ei-

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nem Zitat von Dirk Baecker darauf hingewiesen zu werden, dass Sozialarbeit „Inklusionsprobleme der Bevölkerung in die Gesellschaft betreut“ (ebd.; Hervorhebung von mir; H.K.). Für Roland Merten stellt sich der Begriff der (sozialen) Integration letztlich als so allumfassend dar, dass fraglich wird, was der Begriff denn überhaupt noch aussagt, wenn sogar von der Theoriearbeit eine ‚Inhaltsleere‘ intendiert wird (vgl. Merten 1997, S. 94ff.), in die man alles hineinpacken kann, was sich als Sozialarbeit ausweist oder so ausgewiesen werden kann.

 Im Folgenden werde ich der Gesellschaftstheorie der Sozialarbeitswissenschaft und der Sozialarbeitsprofession eine Möglichkeit anbieten, die Begriffspaare ‚Inklusion/Exklusion‘ und ‚Integration/Desintegration‘ voneinander zu unterscheiden. Denn erst nach einer solchen Unterscheidung kann man erkennen, welche verschiedenartigen Bedeutungen beide Begriffspaare mitführen. Man wird erst nach dieser Unterscheidung das Neue, das Innovative sehen können, das sich mithin zeigt, wenn die bisherige differenzierungsarme Sprache, dietendenziell Integration mit Inklusion und Exklusion mit Desintegration gleichsetzt, mit diesbezüglichen Differenzen angereichert wird. Die These ist, dass sich das Begriffspaar Integration/Desintegration auf die (in der ‚multikulturellen‘ Gesellschaft pluralisierten) lebensweltlichen Zugehörigkeiten zu Gruppen, Beziehungen, Familien, Netzwerken, kollektiven Identitäten etc. bezieht, in denen die Menschen sozusagen ganzheitlich, als ganze Personen relevant sind sowie moralische Präferenzen und normative Wertsetzungen teilen. Im Gegensatz dazu bezieht sich Inklusion/Exklusion auf eine über Rollen differenzierte nur ausschnitthafte soziale Teilnahme von Menschen an gesellschaftlichen Systemen, die symbolische und materielle Ressourcen wie (staatsbürgerliche) Rechte, (politische) Macht, Arbeit, Geld, Bildung, soziale Hilfe etc. bereitstellen sowie individuell vermitteln und deren Einsatz voraussetzen.

Diese These resultiert in erster Linie aus systemtheoretischen Beobachtungen der Gesellschaft, d.h. sie ist gewonnen durch die Einnahme der gesellschaftstheoretischen Perspektive der funktional-strukturellen Systemtheorie (siehe grundsätzlich dazu Luhmann 1997). Darüber hinaus werden allerdings auch theoretische Anleihen gemacht, die auf die Theorie des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas und auf die Theorie der reflexiven Modernisierung von Ulrich Beck zurückgehen. Die Einnahme solcher Theorieperspektiven wird der Sozialarbeitswissenschaft vorgeschlagen, weil so beobachtet werden kann, dass auf der Sozialarbeit genau jene gesellschaftlichen Probleme lasten, die dadurch entstehen, dass sich die Gesellschaft gewandelt hat: und zwar von einer Integrationsgesellschaft zu einer Inklusionsgesellschaft. Sozialarbeit hat demnach die individuellen Probleme zu betreuen, die sozialstrukturell durch diesen Wandlungsprozess bedingt sind.

 III.

 Traditionellerweise meint man in der Sozialarbeit auch heute noch, dass sozialarbeiterische Hilfen Integrationshilfen seien. Mit dieser These, dass Soziale Arbeit also die Funktion zufalle, Menschen sozial zu integrieren, geht man implizit davon aus, dass desintegrierte Menschen problembelastete Menschen sind, denen hinsichtlich einer (wieder)herzustellenden Integration geholfen werden müsse. Desintegration wird also eindeutig negativ bewertet. Soziale Arbeit helfe Menschen demnach dabei, sich zu integrieren, etwa einerseits in lebensweltliche Gemeinschaften wie soziale Gruppen, Familien etc. oder in Moral- und Wertgebäude und andererseits in die Politik, das Recht, die Wirtschaft, die Bildung etc. Eswird also ein Integrationsbegriff benutzt, der keine eindeutige Differenz markiert - um mit Habermas zu sprechen: zwischen der lebensweltlichen Sphäre der Gesellschaft, die normativ über Sprachen, Moralgebäude und sozial geteilte Werte integriert wird und der (funktions)systemischen Sphäre der Gesellschaft, die funktional über Kommunikationsmedien wie Macht, Recht und Geld vermittelt ist (siehe Habermas 1981).

Wenn man Sozialer Arbeit die Funktion der Integrationshilfe zuschreibt, dann verkennt man, dass Menschen zwar integriert werden können, und zwar in die Lebenswelt, aber – wenn man den soziologischen Begriff Integration ernst nimmt – nicht in den Staat, die Politik, die Wirtschaft oder das Bildungssystem; bezüglich dieser funktionalen gesellschaftlichen Systeme können sie lediglich inkludieren bzw. inkludiert werden.

Mit der klassischen Soziologie (etwa mit Emile Durkheim oder Talcott Parsons) im Rücken bedeutet Integration, zusammengefasst gesagt, die vollständige, wenn man so will, die ganzheitliche Einbindung von Individuen und deren Handeln und Denken in normativ verpflichtende soziale Zugehörigkeiten, in lebensweltliche Gemeinschaften. Von der Integration ist potentiell und tendenziell der ganze Mensch betroffen, der etwa einer bestimmten Gemeinschaft oder Gruppe angehört, mit der er bestimmte Werte und Handlungspräferenzen teilt; er wird über die Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft oder Gruppe bezüglich seiner persönlichen Merkmale definiert und definierbar; seine Handlungs-und Denkmöglichkeiten werden bis auf ein bestimmtes Maß an Freiheitsgraden, an Denk- und

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Handlungsspielräumen eingeschränkt. Im Gegensatz dazu verlangt die systemische Partizipation, die im Anschluss an die soziologische Systemtheorie Inklusion genant werden soll (vgl. Luhmann 1995; Nassehi 1997; Nassehi/Nollmann 1997), die Verfügbarkeit über bürgerliche Rechte, z.B. die Möglichkeit, die Rolle eines Staatsbürgers/einer Staatsbürgerin einzunehmen sowie den Einsatz solcher Medien wie Geld, Macht und Recht. Die Nicht-Möglichkeit der personellen Einnahme dieser Rollen geht mit Exklusion einher, d.h. Personen, die weder die Möglichkeit haben, Staatsbürger zu sein, Geld (etwa durch Arbeit) zu erlangen, Rechte in Anspruch zu nehmen, durch Bildung Positionen zu erreichen etc. bleiben tendenziell exkludiert. Während man über die Integration eher unspezifisch, mithin wenig rationalisiert, wenig verrechtlicht und wenig bürokratisiert am lebensweltlichen Bereich der Gesellschaft partizipiert, partizipiert man an der funktionssystemischen Sphäre der Gesellschaft über Inklusion nach klar umrissenen strukturellen, rechtlich und bürokratisch abgesicherten rationalisierten Regeln.

Im lebensweltlichen Bereich, mithin im Integrationsbereich, sind Menschen potentiell als ganze Personen eingebunden, d.h. alles Persönliche, alles Gefühlte, Gedachte, Erwartete etc.kann hier relevant werden. Im funktionssystemischen Bereich hingegen zählen nur bestimmte rollenhafte Ausschnitte der jeweiligen Persönlichkeit. Personen sind hier also z.B. (nur) in ihrer jeweiligen Rolle als StaatsbürgerInnen, WählerInnen, KonsumentInnen, ArbeitnehmerInnen/ArbeitgeberInnen, StudentInnen, KlientInnen/SozialarbeiterInnen etc. relevant, der ‚Rest‘ der Persönlichkeit bleibt ausgeschlossen, bleibt exkludiert.

Bei der Verwendung eines allumfassenden Integrationsbegriffs oder Inklusionsbegriffs wird übersehen, dass Individuen Unterschiedliches ins Spiel bringen müssen, um zum einen an der lebensweltlichen und zum anderen an der funktionssystemischen Sphäre der Gesellschaft zu partizipieren. Mit anderen Worten, eine Soziale Arbeit, die nur einen Begriff für die Partizipation des Individuums an der Gesellschaft hat, etwa Integration oder Inklusion, übersieht, dass gesellschaftliche Partizipation genaugenommen zweigeteilt ist: in lebensweltliche und systemische Partizipation, in Integration und Inklusion.

Nach einer präzisen Unterscheidung von Integration und Inklusion kann man also erkennen, wie ich noch einmal explizit betonen möchte, dass Individuen zwar in Gruppen, Familien, Freundschaften, kurz: in lebensweltliche Gemeinschaften integriert sein können, aber nicht in der Politik, im Recht, in der Wirtschaft oder in der Bildung. In diesen Bereichen der Gesellschaft, in diesen Funktionssystemen zählen Menschen nur ausschnitthaft, nur rollenhaft, sozusagen als geteilte Persönlichkeiten. Und genau diese rollenhafte, ausschnitthafte Teilnahme von Menschen an Funktionssystemen der Gesellschaft, die materielle und symbolische Ressourcen vermitteln, soll als Inklusion bezeichnet werden.

In der Moderne zeigt sich nun, dass Menschen keineswegs mehr in stabilen lebensweltlichen Integrationsformen leben, dass mithin die klassischen lebensweltlichen Einheiten (z.B. Kleinfamilien) sowie moralische und normative Verbindlichkeiten die Menschen nur noch lose zeitlich und sozial zusammenhalten (vgl. Beck 1986). Die Menschen verlieren ihre traditionellen Integrationsformen, die ihr Leben (in der Vormoderne vollständig) absicherten und werden abhängiger denn je von Möglichkeiten der sozialen Inklusion - z.B. bezüglich der Institutionen und Organisationen der modernen Gesellschaft, etwa der Sozialen Arbeit (vgl. Rauschenbach 1992). Nur wenn Menschen in der modernen Gesellschaft sich Inklusionsmöglichkeiten sichern können, z.B. hinsichtlich der Bildung, der Wirtschaft, dem Recht, der Politik etc., nur wenn sie, anders gesagt, über Kommunikationsmedien wie Geld, Recht, Macht, Bildung etc. verfügen, können sie ihre physische und psychische Existenz sichern. Denn über Inklusionen in Funktionssysteme, und nicht über Integration in lebensweltliche Gemeinschaften, werden in der modernen Gesellschaft lebensnotwendige Ressourcen und Kapazitäten vermittelt. Erst wenn die Soziale Arbeit dies erkennt, kann sieihre Funktionen bezüglich der unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereiche, d.h. bezüglich des Inklusions- und bezüglich des Integrationsbereichs, präzise beschreiben. Soziale Arbeit könnte sich dann die Aufgabe zuschreiben, mit ihren AdressatInnen daran zu arbeiten, deren persönliche Inklusionschancen zu sichern, wieder zu ‚entdecken‘ oder zu erhöhnen bzw. ihnen dabei zu helfen, auch mit eventuell dauerhafter Exklusion – trotz lebensweltlich loser Integration/potentieller Desintegration – zu leben.

 IV.

Meine These, die ich schließlich in Anlehnung an den systemtheoretischen Diskurs zur Funktion der Sozialarbeit skizzenhaft ausführen will, lautet, dass Soziale Arbeit die Funktion hat, Inklusionen zu vermitteln bzw., wenn dies nicht gelingt, stellvertretend zu inkludieren (vgl. ausführlich dazu bereits Kleve 1997). Sozialarbeit beobachtet demnach Exklusionen, Ausschlüsse von Personen aus den wichtigen Funktionssystemen der Gesellschaft (z.B.

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Wirtschaft, Politik/Staat, Recht, Bildung etc.), thematisiert diese und bietet den ausgeschlossenen Personen Hilfen zur Re-Inklusion, zur Exklusionsüberbrückung oder zur dauerhaften Exklusionstoleranz an. Und bei der Wahrnehmung dieser Funktion leistet Soziale Arbeit tendenziell keine Integrationshilfe mehr; vielmehr erkennt sie (zumindest implizit), dass in der modernen, vielleicht schon postmodernen Gesellschaft, zu feste normativ verpflichtende lebensweltliche Einbindungen in soziale Integrationsformen wie Familien, Gruppen etc. Inklusionsmöglichkeiten verringern.

 Empirisch ist leicht belegbar – wie etwa Ulrich Beck (1993) gezeigt hat –, dass die mobilen, flexiblen, sozial eher lose integrierten bzw. potentiell desintegrierten Menschen mehr Möglichkeiten der Inklusion realisieren können als diejenigen, die diesbezüglich eher fest integriert sind. Wie Beck etwa am Beispiel der modernen Erwerbsarbeit ausführt, setze diese Arbeit „Mobilität und Mobilitätsbereitschaft voraus, alles Anforderungen, die nichts befehlen, aber das Individuum dazu auffordern, sich gefälligst als Individuum zu konstituieren: zu planen, zu verstehen, zu entwerfen, zu handeln – oder die Suppe selbst auszulöffeln, die es sich im Falle seines ‚Versagens‘ dann selbst eingebrockt hat“ (ebd., S. 153).

 Der potentiell desintegrierte, der mobile und flexible Einzelne wird also ins Zentrum gerückt, und „traditionale Lebens- und Verkehrsformen“ bzw. traditionale soziale Integrationen werden in der modernen Gesellschaft eher mißlohnt, so dass zwar über „verlorengegangene Gemeinsamkeiten“ (ebd., S. 154) und deren Auflösung in radikale Pluralität und soziale Differenzierung geklagt werden kann, so dass etwa Reintegrationsversuche unternommen werden können, deren Erfolgsmöglichkeiten aber müssen angesichts der strukturellen Dynamik der Moderne bezweifelt werden. Alle Versuche, die Gesellschaft und die in lebensweltlicher Pluralität sich verlierenden individualisierten Menschen in die Gesellschaft zu re-integrieren, wirken angesichts der gesellschaftstheoretischen Diagnosen zur Moderne, wie sie etwa von Niklas Luhmann, Ulrich Beck und auch von Jürgen Habermas vorgelegt wurden, als verzweifelte Versuche und offenbaren eher ein unrealistisches, sozialromantisches Unterfangen.

 Gesellschaftstheoretisch abstrakt betrachtet bedeutet die bisherige Darstellung des Verhältnisses von Integration und Inklusion, dass Inklusion und Integration gegenläufig sind, dass der Inklusionsbereich der Gesellschaft desintegriert und der Exklusionsbereich der Gesellschaft integriert ist. Auf der Seite der Inklusion, also auf der Seite der funktionssystemischen Partizipationen ist keine Integration möglich, während Integration außerhalb der Funktionssysteme, in deren Exklusionsbereich, in der Lebenswelt immer wieder neu von jedem und jeder einzelnen realisiert werden muss. „In dem Maße, in dem die Gesellschaft in einzelne Funktionsbereiche zerfällt [...], werden die Menschen jeweils nur unter Teilaspekten eingebunden: als Steuerzahler, Autofahrer, Studentin, Konsument, Wähler, Patientin, Produzent, Vater, Mutter, Schwester, Fußgängerin usw.; d.h. sie werden im andauernden Wechsel zwischen verschiedenartigen, zum Teil unvereinbaren Verhaltenslogiken gezwungen, sich auf die eigenen Beine zu stellen und das, was zu zerspringen droht, selbst in die Hand zu nehmen: das eigene Leben. Die moderne Gesellschaft integriert die Menschen nicht als ganze Personen in ihre Funktionssysteme, sie ist vielmehr im Gegenteil darauf angewiesen, dass Individuen gerade nicht integriert werden, sondern nur teil- und zeitweise als permanente Wanderer zwischen den Funktionssystemen an diesen teilzunehmen“ (Beck 1997, S. 10).

 Die Menschen werden also strukturell gezwungen, um Sinn, Werte, Lebensstile etc. zu finden, zu konstruieren, sich auf „die eigenen Beine zu stellen“, ein eigenes Leben zu konstruieren, wobei ihnen der funktionssystemische Bereich der Gesellschaft, der Inklusionsbereich, eher abverlangt diesbezüglich potentiell offen, flexibel und mobil, kurz: potentiell desintegriert bzw. lose integriert zu bleiben.

 Demnach scheint der Sozialen Arbeit in der modernen Gesellschaft die Funktion zuzufallen, Menschen dabei zu helfen, mit ihrer potentiellen sozialen Desintegration bzw. ihrer tendenziell losen Integration zu leben, mithin die Folgen der Dynamik der Moderne auszuhalten. Will Soziale Arbeit also Menschen dabei helfen, dass diese ihre physische und psychische Existenz selbstständig sichern können, dann muss sie die individuellen Möglichkeiten fördern, mit dieser losen Integrationsform bzw. mit potentieller Desintegration umzugehen, diese zu erreichen, weil nur so die Chancen für die Inklusion in die Funktionssysteme erhöht bzw. geschaffen werden können. Soziale Arbeit inkludiert also, um lose soziale Integration bzw. Desintegration auszuhalten, damit die Inklusion in die Funktionssysteme der Gesellschaft (Wirtschaft, Politik, Recht, Bildung etc.) (wieder) gelingt oder eine dauerhafte Exklusion aus diesen Funktionssystemen individuell, psychisch, emotional und sozial ausgehalten werden kann. Gerade aufgrund der eher losen sozialen Integrationsformen bzw. der potentiellen Desintegration moderner Individuen ist Soziale Arbeit, die immer dann (stellvertretend) inkludiert, wenn andere Funktionssysteme (etwa Wirtschaft, Recht,

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Bildung etc.) individuell keine Inklusionsmöglichkeiten mehr bieten, für viele die einzige Chance, ihr physisches und psychisches Leben zu sichern. Denn in der Moderne ist es bei der Beobachtung von Lebensrisiken und -problemen eher nicht selbstverständlich, dass Menschen sich aufgrund normativer Verpflichtungen innerhalb sozialer Integrationsformen gegenseitig helfen; vielmehr wird der professionelle Einsatz strukturell verankerter (sozialer oder therapeutischer) Hilfen erwartet (vgl. Luhmann 1973).

Erst wenn die Sozialarbeit erkennt, dass die moderne Gesellschaft keine Integrationsgesellschaft mehr ist, sondern eine Inklusionsgesellschaft, deren strukturelle Erwartung Desintegration ist, dann wird sie ihre gesellschaftliche Funktion mit allen ihren Ambivalenzen und Paradoxien theoretisch rekonstruieren und fundiert reflektieren können. Die Gesellschaft ist seit ihrem Übergang in die funktionale, in die funktionssystemische Differenzierung, also etwa seit dem Eintritt in das 20. Jahrhundert keine normativ integrierte Gesellschaft mehr, in der sozial geteilter Sinn, mithin das soziale Ganze (z.B. über universelle Normen) alles andere zusammenhält, sondern eine – wie immer kritisch man das auch bewerten mag – desintegrierte Gesellschaft, in der man nur noch leben kann, weil es die formal organisierten und institutionalisierten Möglichkeiten sozialer Inklusion gibt.

 

V.

 „Was Wunder, daß es eine theoretische Aufgabe von allergrößter Wichtigkeit ist, sich dem Problem des Anderen nun anders zu stellen, das Verhältnis zum Fremden nicht weiter als Provokation zur [integrativen; H.K.] Aneignung zu verstehen“ (Kamper 1986, S. 41). Ausgehend von diesem Zitat möchte ich abschließend noch einmal auf das eingangs angeführte Beispiel der Debatte über die doppelte Staatsbürgerschaft zurückkommen, in der sich der Umgang mit dem/den desintegrierten Fremden bzw. Anderen spiegelt. Ich will

 versuchen zu verdeutlichen, dass gerade der gesellschaftliche (also auch sozialarbeiterische) Umgang mit AusländerInnen, mit Menschen nicht-deutscher Herkunft, mit Menschen (noch) anderer Staatsbürgerschaft ein Zeichen dafür ist, an dem erkennbar wird, worin sich eine ‚moderne‘ von einer heute geforderten ‚postmodernen‘ gesellschaftlichen Beobachtungs- und Kommunikationspraxis unterscheidet. Angesichts des grassierenden Rechtsradikalismus in Deutschland, ja in Europa soll in diesem Zusammenhang außerdem das Phänomen fremdenfeindlicher Gewalt insbesondere bezüglich der darauf bezogenen sozialarbeiterischen Reaktionsmöglichkeiten kurz diskutiert werden.

 Während die politisch konservative Seite den Begriff Integration als einen schillernden Kampfbegriff benutzt, mit dem die Einstellung „zu Ausländern umschrieben wird: Von der Anpassung (Assimilation) bis hin zu Ausgrenzung ‚Integrationsunwilliger‘“ (Jakubeit 1999, S. 92), kommt es darauf an, diesen Begriff zu unterscheiden: eben von Inklusion. Außerdem sollte man sehen lernen, dass sich die Weltgesellschaft spätestens mit der zunehmenden Globalisierung und Internationalisierung nicht nur der Wirtschaft keineswegs mehr in kulturell und ethnisch eindeutig und einheitlich integrierte Regionalgesellschaften aufgliedert. Vielmehr sind strukturell (vor allem ökonomisch) bedingte kulturelle und ethnische ‚Durchmischungen‘ und Differenzierungen in den Nationalstaaten zu beobachten, die ebenfalls – neben den oben angeführten Aspekten – Möglichkeit von Integrationsgesellschaften ad absurdum führen. Diesen Sachverhalt gilt es anzuerkennen und sich politisch darauf einzustellen, indem man eben strukturelle, rechtlich abgesicherte systemische Inklusion (z.B. Staatsbürgerschaft) trotz lebensweltlicher Differenz, trotz Desintegration, eben „differenzempfindliche Inklusion“ (Habermas 1996) ermöglicht.

 Erst die Bereitschaft, Inklusion trotz Differenz zuzulassen, offenbart die Potentiale, die eine Nationalgesellschaft ins Spiel bringen kann, um mit dem/den Fremden umzugehen. Erst wenn sozial nicht mehr versucht wird, sich das Fremde (und das ist nicht nur in ethnischer Hinsicht gemeint) integrativ einzuverleiben, es zu dem Selben, dem Eigenen machen zu wollen, erst dann kommt man zu einem für die heutige Zeit passenden Konzept von sozialer Gerechtigkeit (vgl. weiterführend Kleve 1999a; 1999b).

 Aber von solch einer sozialen Gerechtigkeit scheinen wir derzeit noch weit entfernt zu sein – zumindest gelangt man schnell zu dieser These, wenn man die jüngsten fremdenfeindlichen Gewalttaten in Betracht zieht, die all diejenigen in Angst und Schrecken versetzen, die nicht in eine vermeintlich deutsche Welt der nationalen Integration und kulturellen Identität hinein passen. Mit Peter Fuchs (2000) kann davon gesprochen werden, dass wir in Deutschland gerade angesichts der jüngsten rechtsradikalen Gewalttaten eine Integrationssehnsucht erleben, die jedwedes Anderssein nicht toleriert, die die „kuhwarme Welt der Nähe“ (ebd.) herbeisehnt: „Darin rieselt der Schnee, schmücken Frauen fromm die Fenster, da bauen sich Wälder auf hoch droben, da besiedeln Gartenzwerge die Vorgärten, da ziert man Hauswände mit Metallmöwen. Deutschland ist das Mutterland aller Vereinsmeierei, der Schrebergärten, der Autowaschanlagen. Es

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ist kreuzsentimental, es liebt Wunderkerzen und es schwenkt Feuerzeuge. Sentimentalität und Ressentiment, das hängt zusammen wie Schäferhunde, Weihnachtsfeiern und KZ-Konzerte“ (ebd.). Genau in dieser spießbürgerlich-normalen, ja typisch deutschen Lebenswelt, die nichts mehr herbeisehnt, „als einen kleinen, warmen, ungestörten Raum zum Leben – eine tiefe deutsche Sehnsucht, der mit trockenem Geist und winterklarer Ironie nicht beizukommen ist“ (ebd.), gedeiht die braune Gewalt, so Fuchs. Denn hinter der fremdenfeindlichen Gewalt steht die (deutsche) Ideologie der Übersichtlichkeit, Eindeutigkeit, Ordnung, kurz: der homogenen Integration. Insofern ist diese Gewalt eine Kampfansage gegen das unaufhaltsame Zerbersten von homogenen lebensweltlichen Integrationen; sie entspringt, wie man auch sagen könnte, der Unfähigkeit, das auszuhalten und zu akzeptieren, was unsere postmoderne Welt reicher, bunter, interessanter und vielfältiger, aber auch widersprüchlicher, ambivalenter, komplexer und anstrengender macht: eben Desintegrations-, Differenz- und Diversivitätserfahrungen – aufgrund unterschiedlichster sozialer, ökonomischer, kultureller und politischer Prozesse innerhalb unserer globalisierten Gesellschaft.

 In diesem Zusammenhang drängt sich freilich die Frage auf, wie man Soziale Arbeit mit Menschen gestaltet, die an der beschriebenen Unfähigkeit, an dem sozialen Defizit leiden, das Andere, das Fremde nicht auszuhalten, nicht zu akzeptieren. Wie ist also eine Soziale Arbeit etwa mit rechtsradikalen Jugendlichen (z.B. mit Skinheads) möglich? Benedikt Sturzenhecker (2000) hat in verschiedenen Studien gezeigt, dass Soziale Arbeit auch in diesem Feld – um gesellschaftstheoretisch präzise zu sprechen – eine Inklusions- und keine Integrationsaufgabe hat. An konkreten Beispielen von sozialarbeiterischen Projekten in Westfalen zeigt er, dass eine erfolgreiche Arbeit etwa mit Skinheads möglich ist, wenn SozialarbeiterInnen es z.B. – neben vielen anderen Aspekten (siehe ausführlich dazu ebd., S. 33ff.) – schaffen, diese Jugendlichen in demokratische politische Strukturen (z.B. bezüglich der Mitbestimmung im Jugendzentrum) zu inkludieren, die ihnen das Erlernen von Demokratie ermöglichen, welche nur funktioniert in einem Kontext vielfältiger pluraler Interessen.

 Sturzenhecker (2000, S. 54) ist der Meinung, dass als Reaktion auf den grassierenden Rechtsradikalismus gerade unter Jugendlichen reine „Anti-Methoden (z.B. Rechtsextremisten als individuell Schuldige konstruieren und pathologisieren, Rechtsextremismus als gesellschaftliches Randphänomen definieren und mit Verboten und reiner Repression zu beantworten) [...] nicht geeignet [sind]“. Statt dessen spricht er sich „für eine Potenzierung von Demokratie [aus], gerade im Angesicht ihrer Gefährdung. ‚Demokratie zumuten!’ und ‚Freiheit aushalten!’ sind plakative Formulierungen dieses Ziels“. In diesem Sinne kann, so Sturzenhecker (ebd.), die „Demokratie verteidigt werden, indem sie um so stärker praktiziert wird“. Denn eine „zivile gewaltfreie Verteidigung der Demokratie besteht in ihrer Ausweitung und Praxis in allen Lebensbereichen“ (ebd.). Dies heißt natürlich nicht, dass man nun Rechtsradikalen freien Lauf lässt, im Gegenteil: „Zu demokratischen Handeln gehört auch, die Inhalte und Methoden des Rechtsextremismus zu verweigern und zu verhindern (sicherlich auch durch rechtsstaatliche Strafverfolgung)“ (ebd.; Hervorhebung von mir; H.K.). So geht es in der Sozialen Arbeit mit rechtsradikalen Jugendlichen immer auch darum, die rechtsradikale Identität, etwa die Integration in der Skinhead-Gruppe und die dazugehörigen fremdenfeindlichen Verhaltensmuster zu thematisieren und mit alternativen Mustern und Integrationsformen zu konfrontieren, diesen Jugendlichen schließlich die Möglichkeit anderer Integrationsformen erlebbar zu machen. Das Lernziel einer sozialpädagogischen Arbeit mit Skinheads heißt in diesem Zusammenhang, dass die Jugendlichen fähig werden, „Differenz [zu] ertragen, Verantwortung [zu] übernehmen und mit[zu]bestimmen“ (ebd., S. 43). Soziale Arbeit hat hier eine „Praxis von Gleichheit bei gleichzeitiger Anerkennung von Unterschiedlichkeit (alle anders – alle gleich)“ (ebd., S. 4) nicht nur durch ihre Orientierungen vorzuleben, sondern auch sozialpädagogisch zu vermitteln. Wie dies im einzelnen möglich ist, kann hier allerdings nicht thematisiert werden (siehe dazu nochmals Sturzenhecker 2000).

Festzuhalten bleibt in diesem Zusammenhang aber, dass allen Menschen in einer zunehmend desintegrierten Gesellschaft demokratische Inklusion ermöglicht und zugetraut werden sollte. Die Soziale Arbeit könnte diesbezüglich dabei helfen, dass gerade Jugendliche, „die in einer gesellschaftlichen Situation von Unsicherheit und Ohnmacht für sich Werte und Handlungsorientierungen entwickeln wollen, Demokratie und gewaltfreie Konfliktführung erleben und einüben können“ (ebd., S. 55). Dies sollte auch für rechts orientierte Jugendliche gelten, auch ihnen ist eine „Erfahrung der Qualität von Demokratie“ (ebd.) zu vermitteln, „indem man ihnen Demokratie zutraut“ (ebd.). Eine solche demokratische Orientierung, ein solches demokratisches Zutrauen geht sicherlich mit großer Toleranz einher, was allerdings nicht heißt, dass auch (fremdenfeindliche) Intoleranz toleriert wird. Toleriert, ja gefördert wird jedoch die Inklusion von (auch rechts

Sozialmagazin, 25. Jg., 12/2000 S.44

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orientierten) Jugendlichen (z.B. in demokratische Strukturen), nicht toleriert, gewaltfrei bekämpft werden allerdings deren politische Orientierungen der Intoleranz. Dies ist beispielsweise methodisch möglich, wie ich noch kurz

mit Sturzenhecker andeuten will, indem die SozialarbeiterInnen versuchen, „die Jugendlichen zu akzeptieren, wie sie sind, das heißt aber nicht, daß sie die politischen Überzeugungen und Gewalthandlungen akzeptieren. Sie trennen zwischen Person und Politik und vermitteln der Person, daß sie erwünscht und wertvoll ist“ (ebd., S. 39), und, dies muss ergänzt werden, signalisieren permanent ihre Ablehnung gegen ihre anti-demokratischen Positionen. „Auf dieser Basis können dann auch Streit und Auseinandersetzung über die rechtsextremen Überzeugungen und über das Gewalthandeln stattfinden“ (ebd.).

 Resümierend lässt sich sagen, dass es in der Sozialen Arbeit heute immer auch darum gehen sollte, eine postmoderne Vision zu entwickeln und lebbar zu machen, in der das Andere, das Fremde – in welcher Hinsicht auch immer – eben als desintegriertes Andere bzw. Fremde anerkannt wird, ohne es deshalb zu exkludieren; gerade darin, auch den/dem Anderen, der/das sich nicht integrieren lässt, zum sozialen Recht der gesellschaftlichen Teilnahme, der Inklusion zu verhelfen, würde sich zeigen, dass pluralistische Demokratie bzw. demokratischer Pluralismus nicht nur eine Floskel, sondern eine lebbare gesellschaftliche Realität ist. Es kommt diesbezüglich also darauf an, Unterschiede zwar wahrzunehmen, aber diese auszuhalten, nicht zu überbrücken oder integrativ zu verringern. Es geht in der sozialen Interaktion und Organisation darum, beim „anderen zuzulassen, dass er anders und verschieden ist. Es ist die Herausforderung zuzulassen, dass der andere die Freiheit hat, verschieden sein zu können und ihn nicht einem Anpassungsdruck auszusetzen“ (Jakubeit 1999, S. 92).

 Um einer solchen Realität näher zu kommen, ist es meiner Ansicht nach zunächst einmal wichtig, gesellschaftstheoretisch genau zu beobachten und zwischen den Begriffspaaren ‚Integration/Desintegration‘ und ‚Inklusion/Exklusion‘ zu unterscheiden. Und so lässt sich abschließend postulieren: Inklusion sichern, fördern, ermöglichen – ja; Integration voraussetzen oder einfordern – nein!

 

Sozialmagazin, 25. Jg., 12/2000 S.45

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