Inklusion / Exklusion
4 Textbeiträge zur Diskussion
Exklusionsindividualität, Lebensführung und Soziale Arbeit
Albert Scherr
Veröffentlicht in: Roland Merten, Albert Scherr, Inklusion und Exklusion in der Sozialen Arbeit, VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage Gmbh, Wiesbaden 2004
Dass es Soziale Arbeit mit abweichendem Verhalten, den Folgen und Nebenfolgen von Armut, Benachteiligungen, Diskriminierungen und Randständigkeit, mit Gewalt in Familien und dem Zerfall von Familien, Entwicklungsproblemen im Kindes- und Ju-gendalter usw. zu tun hat, kann ebenso als unstrittig gelten wie die Annahme, dass es sich jeweils um gesellschaftsstrukturell bedingte Problemlagen und Konflikte han-delt. Mit der Sozialen Arbeit verfügt die moderne Gesellschaft darauf bezogen über ein Mittel, auf vielfältige Sachverhalte, die in irgendeiner Weise als gesellschaftlich verursachte Problemlagen von bzw. mit Individuen, Familien und sozialen Gruppen gelten, nicht nur mit Gleichgültigkeit und gegebenenfalls mit Repression zu reagie-ren, sondern mit personenbezogenen Hilfen. Diese Hilfen ergänzen und erweitern die sozialadministrativ erbrachten Leistungen der sozialen Sicherungssysteme. Durch sozialstaatliche Sicherungen und Soziale Arbeit befähigt sich die moderne Gesellschaft dazu, nicht nur auf abweichendes Verhalten zu reagieren, sondern auch die Diskrepanz zwischen ihren normativen Selbstansprüchen, die in Semantiken der Gleichheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde aufgehoben sind […].
Noch in den 70er-Jahren war die Vorstellung einflussreich, dass ein Ausbau und eine Verbesserung der sozialen Hilfen dazu beitragen können, dass potenziell alle Indivi-duen in die Gesellschaft „integriert“ werden können, d.h. dass Formen der dauerhaf-ten Benachteiligung und Randständigkeit prinzipiell überwindbar sind. Demgegenüber markiert die Thematisierung von Exklusionen bzw. sozialer Ausgren-zung, die ca. Mitte der 90er-Jahre in heterogenen wissenschaftlichen und politischen Kontexten erfolgt und an Einfluss gewinnt (vgl. Kronauer 1997, S. 28ff.; Rose 2000, S. 100ff.), das Scheitern dieser Leitidee: Die im Vergleich zu den 70er-Jahren empi-risch unbestreitbare Zunahme der Zahl der Dauerarbeitslosen und relativ Armen, derKinder und Jugendlichen, die in Heimen untergebracht sind, der Drogenbenutzer, Wohnungslosen, Straffälligen und Gefängnisin-
Roland Merten, Albert Scherr, Inklusion und Exklusion in der Sozialen Arbeit, VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage Gmbh, Wiesbaden 2004, S.55
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sassen (vgl. Scherr 1998) lässt über-deutlich werden, dass die gesellschaftliche Entwicklung sich keineswegs schrittweise auf eine solche Situation zu bewegt, in der alle Individuen Erwerbsarbeit finden, die geltende Rechtsordnung achten und über intakte familiale Beziehungen verfügen. Die Rede von den Exkludierten bzw. der Exklusionsproblematik ist insofern – vor al-ler theoretisch präzisen Verwendung dieser Begriffe – Ausdruck und Bestandteil ei-nes Krisenbewusstseins.
Die Soziale Arbeit findet sich dabei in der Bundesrepublik in einer Situation vor, in der sie in paradoxer Weise von der Zunahme und Vervielfältigung sozialer Probleme und Konflikte profitiert hat: Obwohl sie ihrem Selbstverständnis nach auf die Über-windung von Hilfsbedürftigkeit zielt, trägt gerade die faktische Zunahme von Hilfsbe-dürftigkeit zu ihrer offenkundigen qualitativen und quantitativen Expansion bei (vgl. Rauschenbach/Schilling 2001). […]
Die systemtheoretische Bestimmung der Inklusions-/Exklusionsverhältnisse der modernen Gesellschaft [stellt] keine umfassende und ausreichende Grundlegung für die Theorie der Sozialen Arbeit zur Verfügung. Soziale Arbeit benötigt darüber hin-aus eine solche Theorie der Lebensführung in der modernen Gesellschaft, die in der Lage ist aufzuzeigen, unter welchen Bedingungen Inklusionen und Exklusionen zu einer solchen Hilfsbedürftigkeit führen, die Leistungen der Sozialen Arbeit veranlasst und worin die Möglichkeiten und Grenzen solcher Leistungen liegen.
Roland Merten, Albert Scherr, Inklusion und Exklusion in der Sozialen Arbeit, VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage Gmbh, Wiesbaden 2004, S.56
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