Inklusion / Exklusion

4 Textbeiträge zur Diskussion

Zum systematischen Stellenwert eines Duals innerhalb des Projekts „Systemtheorie Sozialer Arbeit“

Roland Merten / Albert Scherr

Der Text ist publiziert in: Roland Merten, Albert Scherr, Inklusion und Exklusion in der Sozialen Arbeit, VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage Gmbh, Wiesbaden 2004

 Es sind gleich mehrere Bewegungen bzw. Entwicklungslinien, die in den letzten Jah-ren dazu beigetragen haben, dass die Frage nach den Bedingungen und Grenzen gesellschaftlicher Teilhabe wieder ins Zentrum der sozialwissenschaftlichen Auf-merksamkeit geraten ist. Bis weit in die 80er-Jahre […] konnte noch wie selbstver-ständlich davon ausgegangen werden, dass die […] Wirtschaft die sozialstaatliche Absicherung prekärer Lebenssituationen mittragen werde, jedenfalls in den entwi-ckelten (post-)industriellen Gesellschaften Europas und Nordamerikas. Demgegen-über konnte es jedoch spätestens zu Beginn der 90er-Jahre aufmerksamen Beobachtern nicht vorborgen bleiben, dass die Binnendynamik der ökonomisch-technischen Entwicklung – in Verbindung mit der sich verändernden internationalen Wirtschaftslage – die Voraussetzungen des sozial- bzw. wohlfahrtsstaatlichen Arran-gements auch in den westlichen Industrienationen problematisch werden ließ. Seit Mitte der 1980er-Jahre ist geradezu eine Konjunktur von Krisendiagnosen zu ver-zeichnen, die auf Anzeichen einer Strukturkrise eines Gesellschaftsmodells hinwei-sen, das auf Produktivitätsfortschritten, der Erschließung neuer Märkte, Teilnahme auch der abhängig Beschäftigten an steigendem Wohlstand sowie Expansion des Wohlfahrtsstaates gegründet ist (vgl. hierzu exemplarisch etwa Lutz 1984; Habermas 1985; Hirsch/Roth 1986; Dahrendorf 1992). […]   Strukturelle Massenarbeitslosigkeit führt in Verbindung mit der Erosion des Nor-malarbeitsverhältnisses, der Verlängerung von Ausbildungszeiten und dem zuneh-menden Einbezug von Frauen in die Erwerbsarbeit dazu, dass der Bedarf an sozialstaatlichen Leistungen steigt. Zugleich wird es schwieriger, die mit diesen sozi-alstaatlichen Leistungen verbundenen Ausgaben durch steigende Steuereinnahmen zu finanzieren. Die fortschreitende Globalisierung von Produktionsprozessen, Märkten und Geldströmen

Roland Merten, Albert Scherr, Inklusion und Exklusion in der Sozialen Arbeit, VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage Gmbh, Wiesbaden 2004, S.7

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hat dazu geführt, dass die auf der Ebene einzelstaatlicher Re-gelungen angelegten Steuerungsmechanismen ihre Wirksamkeit zunehmend verlo-ren haben bzw. künftighin verlieren werden. Der Nationalstaat verwandelt sich, so eine pointierte Diagnose, in einen „local hero“ (Willke 1992, 310ff.), dessen Steue-rungsmöglichkeiten an die zentralen gesellschaftlichen Probleme nicht mehr heran-reichen. Die international hochmobilen großen Unternehmen haben zunächst auf der Ebene konkreter Produktionen Verlagerungen vorgenommen, um auf diese Weise den in den hoch entwickelten Ländern relativ hohen Lohnkosten zu entgehen. […] Zunehmende Akkumulation von Reichtum in den Händen einer kleinen Bevölke-rungsgruppe bei gleichzeitiger Zunahme einer immer größer werdenden Population, die nachhaltigen Verarmungsprozessen ausgesetzt ist (vgl. BMAS 2001).

[…]  Standen bis zu Beginn der 90er-Jahre beständig steigende Staatseinnahmen zur sozialen Absicherung zur Verfügung, so hat sich die Hoffnung auf beständiges und ununterbrochenes wirtschaftliches Wachstum, das ein „Weiter so, wie bisher“ nahe legte, als „Kurzer Traum immerwährender Prosperität“ (Lutz 1984) herausgestellt. Dieser Traum ist inzwischen wie eine Seifenblase zerplatzt, ohne dass sich zugleich alternative Konzepte zur Sicherung des bisher Erreichten am Horizont politischer Auseinandersetzungen erkennen ließen. Die aktuelle (sozial-)politische Phantasie scheint sich auf „Sparkonzepte“, d.i.: Abbau staatlicher Sicherungsleistungen, insbe-sondere in den unteren Schichten der Erwerbseinkommen und Transferleistungen, zu beschränken (vgl. exemplarisch Martens 2004).

[…]  die Größe der bis Mitte der 1980er-Jahre eher als marginal behandelten Popula-

Roland Merten, Albert Scherr, Inklusion und Exklusion in der Sozialen Arbeit, VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage Gmbh, Wiesbaden 2004, S.8

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tion derjenigen, die nicht an der gesellschaftlichen Entwicklung und der mit ihr ver-bundenen Vorzüge hat teilnehmen können, [hat sich] geradezu exorbitant ausgeweitet. Die ehemaligen Randgruppen sind in einer Weise angewachsen, die dazu geführt hat, dass dieser Terminus untauglich wurde.

Allein mit Blick auf die Bundesrepublik Deutschland haben wir es mit erheblichen Größenordnungen zu tun: 2,7 Millionen SozialhilfeempfängerInnen (3,3% der Bevöl-kerung) Ende 2001, davon allen knapp eine Million Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren (6,5% der Altersgleichen) (Statistisches Bundesamt 2003, S.1). Zusätzlich zeigen die Daten von mehr als 4,3 Millionen registrierten Arbeitslosen (10,5% Ar-beitslosenquote) im August 2003 an (Arbeitsamt online 2003), dass die Zahl der in prekären Lebensverhältnissen Lebenden längst nicht mehr Ausdruck eines individu-ellen Versagens oder subjektiven Fehlverhaltens begriffen werden kann, sondern dass hier gesellschaftliche Wirkmechanismen greifen.Obgleich die Marginalisierung eines zunehmend größer werdenden Teils der Bevöl-kerung erkennbar aus gesellschaftlichen Verursachungszusammenhängen resultiert, laufen die aktuellen sozialpolitischen Steuerungsüberlegungen in Richtung einer per-sonalen Zurechnung und Bearbeitung der aus der Marginalisierung resultierenden individuellen Belastungen. Strukturprobleme sollen durch individuelle Anstrengungen gelöst werden. Der bis dato unstrittige sozialpolitische Grundkonsens ist in Frage ge-stellt.

[…]   die Systemtheorie wurde als Gegenentwurf zu solchen Gesellschaftstheorien wahrgenommen, die die Thematik der sozialen Ungleichheiten ins Zentrum stellen. Eine Gesellschaftstheorie, die für sich in Anspruch nimmt, eine allgemeine Theorie zu sein, also damit letztlich zu allen Themen der sozialen Realität Auskunft geben zu können, muss sich jedoch an ihrem eigenen Anspruch messen lassen. […]

An dieser Stelle setzen nun die neueren Versuche an, die sich mit der Unterschei-dung Inklusion/Exklusion – sei es zustimmend, sei es ablehnend – beschäftigen. Im-mer wieder wird hier das Problem zum Gegenstand erhoben, ob sich dieser aus der Theoriearchitektur der Systemtheorie entspringende binäre Schematismus denn tat-sächlich zur Integration in die Theorie und damit zur (angemessenen) theoretischen Bearbeitung der Thematik „Soziale Ungleichheiten“ eignet. […]

Roland Merten, Albert Scherr, Inklusion und Exklusion in der Sozialen Arbeit, VS Verlag für Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage Gmbh, Wiesbaden 2004, S.9

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